Ingrid Frank - Blumen

Ingrid Frank, Hannover Blumen Das baufällige Gebäude hinter der Bahnlinie war einmal eine Bürstenfabrik. Jetzt leben dort Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, Somalia und vielen anderen Ländern, wie zum Beispiel Montenegro oder Mazedonien, wie Georgina. Sie lebt mit den vier Kindern schon etwas mehr als ein Jahr in dem Heim. Auf dem Gelände suchen sich wilde Blumen ihren Weg: Wiesen-schaumkraut, Sternmieren und später Margeriten und Mohnblumen. Georgina pflückt gerne Blumen. Die stellt sie dann in ein Glas auf den Tisch oder den Fenstersims. Sie durfte vom Erdgeschoss in die zweite Etage umziehen, weil sie dann etwas weniger Angst hat. Angst davor, dass ER kommt und die Kinder holt, ihr wehtut oder beides. ER würde sich rächen. Da ist sie sich sicher. Silvio ist sich auch sicher, sehr sicher sogar. Silvio lebt mit Georgina zusammen. Das darf er eigentlich nicht, rechtlich nicht und auch so nicht. Georgina ist nicht seine Frau. Sie ist die Frau seines Bruders, mit dem sie vor gut zehn Jahren verheiratet worden ist. Da war sie dreizehn Jahre alt, als das erste Kind kam vierzehn. Silvio hat sich sehr in Georgina verliebt und sie in ihn. Das ist etwas, das nicht sein darf, niemals. Nicht in ihrem Land, nicht in ihrer Kultur, nicht in ihrer Religion. Deshalb ist Silvio nach Italien abgehauen. Aber der Bruder hat mitgekriegt, dass er Georgina schon geküsst hatte. Er werde ihn töten, hat er ge-sagt, und das meint er sehr ernst, weiß Silvio. Zuerst hat ER sich an Georgina gerächt. Wenn sie ihn entehrt, darf er mit ihr machen, was er will, und das tat er. Was er wollte, wurde immer grausamer. Er ließ Freunde an Georgina teilhaben und er verkaufte sie, wenn Männer gutes Geld bezahlten für die Nächte mit ihr. Sie gehörte ihm. Er spuckte sie an. Sie gebar ihm drei Kinder. Als sie weglief, weil sie nicht mehr konnte, und weil sie gehört hatte, dass es Wege gibt, das Land zu verlassen, hatte sie große Angst. Silvio hat sich aus Italien gemeldet. „Geh nach Deutschland“, hat er gesagt, und wie durch ein Wunder ist sie wirklich bis dorthin gekommen. Das Wunder war ein sehr mühsamer Weg. Und Silvio kam später auch. Er hat den Weg zu ihr ge-funden. Unterwegs ist sie schwanger gewesen. Der jüngste Sohn heißt Ezel, ‚Ewigkeit‘, sie will auf Ewigkeit nicht mehr zurück und auf Ewigkeit Silvio lieben. So ist das. Die Frau in dem Flüchtlingswohnheim drückt ein Auge zu, als sie zulässt, dass Silvio zu ihr zieht. Sie weiß, dass er nicht ihr Mann ist, er hat keine bescheinigte Berechtigung, dort zu wohnen. Trotzdem lässt sie ihn in Ruhe; sie spürt, dass Geor-gina das braucht. Einmal ist ER bis in das Haus gekommen. Er hat Randale gemacht und ist deshalb des Hauses verwiesen worden. „Er wird wiederkommen“, weiß Georgina und Silvio ergänzt: „Er lässt sich nicht einschüchtern.“ Georgina hat Angst. Nachts läuft sie auf dem Flur auf und ab, bis sie frühmorgens über-müdet zwei, drei Stunden schläft. Silvio hat auch Angst. „Soll ER mich doch umbringen, aber was ist dann mit Georgina? Und was mit den Kindern?“, sagt er. Sie kaut ihre Fingernägel ab bis sie bluten. Alle Fingerkuppen bluten. Einmal sind sie zur Polizei gegangen. „Wir brauchen Schutz. ER verfolgt uns. ER reist auch ohne Berechtigung in Deutschland ein. ER ist brutal. Er war schon im Gefängnis, aber er kommt immer überall wieder raus und dann ist alles noch schlimmer.“ Die Polizei fragt nach Name und Anschrift des Beschuldigten, dann könnten sie prüfen, ob der Beschul-digte Silvio und Georgina etwas antun wolle. Die beiden haben keine Adresse, sie geben keinen Namen an. Sie haben nur Angst. Sie gehen unverrichteter Dinge wieder nach Hause, das jetzt erst recht kein sicheres Zuhause ist. Georgina stellt einen Asylantrag. Die Kinder gehen in die Schule, sie lebt jetzt lange hier. Es ist schwer, in ihr Land zurückzukehren. Vielleicht kann sie deshalb bleiben. Silvio ist Europäer, er hat eine italienische Aufenthaltserlaubnis; er hofft bleiben zu dürfen. Sie hoffen, arbeiten zu dürfen, eine Wohnung zu mieten, ‚normal‘ zu leben. Georgina geht zum Sprachkurs. Silvio passt dann auf die Kinder auf. Es ist schwer, sich zu konzentrieren. „Deutsch hilft mir“, sagt sie. „Meine Sprache erinnert mich an ihn und all das Schreckliche.“ Sie darf mehr Pausen machen als die anderen. Die Lehrerin spürt, dass Georgina lernen will. Auch die Kinder wollen lernen. Georgina liebt die Kinder und Silvio ist ihnen wie ein Vater. ‚Papa‘, nennen sie ihn. In ihren Seelen schlummern verschwommen schlimme Bilder des anderen Papas. Ezel ist ein besonderer Junge. Es macht ihm nichts aus, wenn die Kinder lachen, wenn sie denken, dass er ‚Esel‘ heißt. Er erklärt ihnen den Unterschied. In der Grundschule wird er Streitschlichter und beim Krippenspiel darf er ein Hirte sein, obwohl er Moslem ist und Sinti, Jesus in der Krippe aber zu den Christen gehört. Georgina und Silvio sind stolz, dass Ezel diese Rolle hat und in der Kirche vorspielen darf. „Gott ist Gott“, sagen sie. Wer denn in den Weihnachtsferien wegfahre, fragt die Lehrerin. Ezel hat Angst, dass das bedeutet, dass sie aufbrechen müssen. Der lange Weg nach Deutschland war furchtbar. Er will nicht wieder reisen und Hunger haben und Angst und sich verstecken müssen. „Wir fahren nicht weg“, erklärt Silvio ihm. „Manche Kinder fahren Ski oder Schlitten in den Bergen, deshalb hat die Lehrerin das gefragt. Wir bleiben hier.“ Silvio möchte glauben, was er da sagt. Aber er hat Angst und er hat keine Arbeit und keine Arbeitserlaubnis, keinen Trauschein, nichts – nur Georgina und die Kinder und die Hoffnung, bleiben zu dürfen. Georgina putzt die Treppe im Wohnheim, dafür bekommt sie ein bisschen Geld. Ab und zu vertritt sie Helena, die ein Lokal in der Stadt putzt. Dafür muss sie abends bis zum anderen Ende der Stadt laufen. Sie hat Angst im Dunkeln, Angst vor den Männern auf der Straße, aber sie geht alleine. Silvio soll bei den Kindern bleiben. Sie ist stolz, dass sie den Weg alleine schafft. Wenn sie Silvio nahe ist, kommen die Ungeheuer und Gespenster und machen es ihr schwer. In ihrem zerstörten Körper lebt eine zerstörte Seele, so erklärt es ihr die Frau, die ihr helfen will. Sie geht dorthin, um mit ihr zu reden. Es tut gut, mit ihr zu reden. Es macht die Seele leichter. Sie hat ihr auch erzählt, dass sie schwanger war. Von Silvio. „Alles ist so schwer, aber ich bin schwanger geworden. Ich kann das Kind nicht haben. Mit all der Angst“, sagt sie und entscheidet, es abtreiben zu lassen. Es ist eine schwere Entscheidung. Silvio ist traurig. „Ich bringe ihr nur Unglück“, sagt er und weiß‚ dass Gott das eigentlich nicht erlaubt. „Wir werden in diesem Ramadan besonders streng fasten“, sagt er. Georgina weint viel. ‚Vielleicht werde ich verrückt‘, denkt sie. Ihre Tante sagt und macht verrückte Sachen, sie lebt eingesperrt in einer Klinik. ‚Vielleicht bin ich auch so. Ich habe Angst, verrückt zu werden.‘ „Du bist nicht verrückt“, sagt Silvio. „Dir ist Verrücktes passiert“, sagt die Frau in dem Beratungsbüro. ‚Die Welt ist verrückt‘, denkt sie. Wenn sie zu viel darüber nachdenkt, geht sie raus. Am liebsten geht sie dahin, wo Blumen blühen. Sie liebt Blumen: Tulpen und Margeriten und Maiglöckchen, Pfingstrosen und all die anderen auch. ‚In Deutschland blühen viele Blumen‘, findet sie.