Jenny Schon: Für den Dichter und Graphiker Günter Bruno Fuchs (* 3. Juli 1928 in Berlin; † 19. April 1977 Berlin)

Jenny Schon

Für den Dichter und Graphiker
Günter Bruno Fuchs
(* 3. Juli 1928 in Berlin; † 19. April 1977 Berlin)

1969 zum Beispiel

…geöffnet fliegt Otto Lilienthal uns
entgegen auf einem Holzschnitt von dir
im Berlin-Jahrbuch der
Neuen Rabenpresse
von V.O. Stomps
Du montierst kunstvoll
alle Schrifttypen
um das Jahr 1969
zu schmücken

Was war nicht alles geschehn
kurz vorher Schüsse auf
Benno Ohnesorg von einem Polizisten
auf Rudi Dutschke von einem
Rechtsradikalen
zehntausende Studenten machen
sich nun an das Werk den
Muff von 100 Jahren aus den
Talaren zu entstauben

Reinhard Lettau erinnert
an die Ruhe in Berlin
die wäre
wenn Rentner Polizisten Taxichauffeure
ihresgleichen
denunzieren verprügeln erschießen…
Für Nicolaus Born ist
die Geduld am Ende
Du lässt zum Beispiel
Allen Ellender
Sergeant in der
Montgomery  Kaserne
in Kladow sagen
er liebe Berlin so sehr
dass er froh ist
dass es zwei gibt
Gerald Bisinger betrauert
Johannes Bobroswki
der im andern Teil der Stadt
vor gut drei Jahren starb
Der Himmel ist
kein Lokal
von Peter Hille
kommt gleich danach
Robert Wolfgang Schnell
übt sich in der Anpflanzung
von Zitronenkraut
Auch Günter Grass äußert sich
als Bürger von West-Berlin
der behelfsmäßigen
Hauptstadt
wie unsere
Ausweise meinen
oder umgekehrt

Gerhard Rühm
Lothar Klünner
Yaak Karsunke
große Vergessene heute
Mit Johannes R. Becher
sitzen wir auf dem Klosett
und Günter Eich erinnert
an die Grippewelle von 1918
Das Weib ist Sonntag
Der Mann Alltag  
steht auf der Seite
von Kurt Neuburger
Christa Reinig
1964 aus der DDR geflohen
Aldona Gustas
in Litauen geboren
die einzigen Dichterinnenstimmen
in diesem Jahr
die Siebzigerjahre Frauenbewegung
startet zum Sprung…

Mit deinem
wundervollen
Jahrbuch
verlassen wir
ein großes Jahrzehnt
so long
Günter Bruno Fuchs
ich habe es mit
Freude in meiner
Buchhandlung verkauft…

Aus: Jenny Schon, Lautes Schweigen, Gedichte, Geest Verlag, 2018


  Günter Bruno Fuchs - 1928 in Kreuzberg in einfachen Verhältnissen geboren, kam er 1942 mit der Kinderlandverschickung in die Hohe Tatra.
Mit 14 als Flakhelfer in Berlin, mit 15 Arbeitseinsatz an der Weichsel, mit 16 Fronteinsatz, 1945 belgische Gefangenschaft.
Besuch der Hochschule für bildende Kunst und Meisterschule für Graphik in Berlin, seit 1952 lebt er als freier Schriftsteller und Graphiker, zunächst in Reutlingen, dann wieder in Berlin, wo er Mitbegründer der Galerie Zinke und der Rixdorfer Drucke wird.
Ehrenmitglied im Neuen Friedrichshagener Dichterkreis, dem auch Johannes Bobrowski und Christa Reinig angehörte.  
1957 Kunstpreis der Jugend von der Kunsthalle Baden-Baden. Seit 1971 Mitglied im PEN Zentrum Deutschland.
Sein literarisches Vorbild war Peter Hille, Freund von Julius Hart, Erich Mühsam und Else Lasker-Schüler.
Er lebte zuletzt in der Güntzelstraße 53 Berlin-Wilmersdorf und starb 1977. Dort befindet sich eine Gedenktafel.
In dem Haus wohnte in den Zwanziger/Dreißiger Jahren die Familie von Marcel Reich-Ranicki, für den auch eine Gedenktafel angebracht wurde.
Nachrufe: http://www.planetlyrik.de/gunter-bruno-fuchs-zigeunertrommel/2013/06/