Jenny Schon: Trautenaustraße 9 - für Marina Zwetajewa zum 125. Geburtstag am 8. Oktober
Trautenaustraße 9
für Marina Zwetajewa zum 125. Geburtstag
(* 26. September/greg./ 8. Oktober 1892 in Moskau; † 31. August 1941 in Jelabuga, Tatarstan)
gestolpert über
das Pflaster der Zeit
nur mit Stiefeln betretbar
den Männern trotzend
die Krieg führen
Revolution veranstalten
die Welt aus ihrer Bahn
kicken…
als Mädchen geboren
kein Pianist geworden
Poetessa der Liebe
mit einer Doppelklinge
als Schreibfeder
scheucht deine Heftigkeit
jedes schmückende Beiwerk
in der Trautenaustraße 9
ein wenig zur Ruhe gekommen
70 Jahre bevor ich dort
zum Aktzeichnen ging
am Prager Platz trafen
sich russische Emigranten
herausgerissen aus den
Kindertagen wie ich
für dich war Europa Heimat
und doch gingst du zurück
auf das Schlachtfeld Eurasiens
um das sich Stalinisten und
Nazis rissen Fleischbrocken
einer Landschaft im Maul
Blutströme der Menschen
sprengend im Stahlgewitter
der Zeit – keine Zeit
für Lyrik
du wolltest nicht leben
im Tollhaus für Vieh
bautest kein Haus
zu bleiben nahmst
seinen Balken für den
Haken an dem du
hingst an Boris
Pasternak schriebst du
Wenn man noch einmal geboren werden könnte
deine Sehnsucht nach der russischen Landschaft
hat sich erfüllt – du liegst
irgendwo in Wäldern ohne Efeu…[i]
aus: lautes schweigen, Lyrik, Geest Verlag, 2018
[i] Trautenaustraße in Berlin-Wilmersdorf, genannt nach der Schlacht 1866 um Trautenau/Böhmen, dem einzigen Ort, wo die Preußen verloren.
In Trautenau bin ich geboren, 1945 wurde ich vertrieben. In der Trautenaustraße war die Volkshochschule, wo ich seit 1992 Kunstkurse belegte.
Marina Zwetajewa wohnte 1922 in der Trautenaustrraße 9, dort ist eine Gedenktafel angebracht, anschließend geht sie nach Prag.
Sie war befreundet mit Anna Achmatowa, Boris Pasternak, Ossip Mandelstam, Wladimir Majakowski, Rainer Maria Rilke u.a. Von 1914-1916 liebte sie die lesbische Dichterin Sofi Parnok. Seit 1912 war sie mit Sergei Efron verheiratet, hatte mit ihm drei Kinder, aber immer wieder auch andere leidenschaftliche Liebschaften zu Männern und Frauen.
Marina Zwetajewa hat sich am 31. August 1941 in Jelabuga erhängt. Ihr Grab ist unbekannt.
