Katarina Klein - Roman über die Geschichte ihrer Großmutter (in der lektoralen Arbeit)

Katarina Klein
wurde 1996 in der Nähe der russischen Stadt Omsk geboren. Bereits ein Jahr später erfolgte der Umzug ihrer Familie nach Deutschland. Aufgewachsen ist sie in Vechta, wo sie 2015 ihr Abitur machte und ihre Leidenschaft für das kreative Schreiben in der Schreibwrkstatt entdeckte. Daraufhin folgte ein Studium der Pharmazie an der WWU Münster. Hier erhielt sie im Frühjahr 2020 ihren Abschluss. Lebt in Quakenbrück.

Die AUtorin erkannte bereits in frühen jahren die Bedeutung der Geschichte ihrer Großmutter für sich. So lag der versuch nahe, die Geschichte ihrer Großmutter nachzuerzählen für sich und andere zu entdecken. Ein großartiger Roman einer jungen Autorin, die ihr literarisches Können zeigt.


Geboren bin ich in einem kleinen Dorf im kalten Sibirien, nahe der Grenze zu Kasachstan, ungefähr 200 Kilometer von der russischen Stadt Omsk entfernt. Ein bescheidenes kleines Dörfchen, von arbeitskräftiger Menschenhand erbaut, fern von jeglicher Zivilisation. Ein schönes Dörfchen, in welchem die Menschen stets ein Lächeln auf den Lippen hatten. Zumindest war es das, bevor die scheißdrecks Kommunisten kamen und es gewaltsam vom Antlitz dieser Erde rissen, denn keine Landkarte der Welt findet den kleinen Fleck, welcher einst meine Heimat war, wieder.
Dennoch gibt es nichts, woran ich mich besser oder lieber erinnere, als diesen kleinen, für die meisten unbedeutenden Fleck.
Geboren bin ich 1939, so steht es auch in meinen Dokumenten. Doch da bin ich mir nicht so sicher. Gemeldet wurden unsere Geburten nämlich in der nächstgrößeren Stadt, und diese war eben nicht leicht zu erreichen. Sobald in unserem Dorf genug Kinder geboren worden waren, versammelten sich alle Väter und machten sich gemeinsam auf den Weg dorthin, um unsere Geburten registrieren zu lassen und somit die Urkunden abzuholen. Die Ochsen zogen den Wagen nur langsam, man brauchte Wochen, bis man in der Stadt, Monate, bis man wieder zurück war.
Auf diesem langen Weg philosophierten unsere Männer mit ihren Kameraden bei einem Gläschen Wodka gerne über den Sinn des Lebens und schmissen dabei stets ein paar Daten durcheinander. Nun steht auf meiner Geburtsurkunde, ich sei am zwanzigsten Mai 1939 geboren, aber daran glaube ich nicht mehr. Ich glaube nämlich, es sei viel später gewesen. 1941 oder 1942 vielleicht.
Abgesehen von meiner Heimat gibt es noch etwas, an das ich mich sehr gut erinnern kann. Das ist meine Kindheit. Diese war geprägt von eisiger Kälte und Hunger. Die Kälte meiner Kindheit spüre ich immer noch im Nacken und an das Hungergefühl habe ich mich schon gewöhnt, so sehr, dass ich es nicht mehr loswerde. Nicht einmal, wenn ich satt bin.
Unser Haus, klein und bescheiden, erbaut durch die Hand des Vaters meines Vaters, besaß einen großen Ofen, so groß, dass wir im tiefsten Winter alle Platz hatten, auf diesem zu schlafen.
Mein Vater hatte das große Glück, ein Traktorist und angesehener Landwirt zu sein, was ihn davor verschonte, zu Zeiten des Krieges an die Front geholt zu werden, wie sie es mit den meisten Männern des Dorfes taten. Kaum einer kam nach Ende des Krieges nach Hause zurück.
Mein Vater war verpflichtet zu arbeiten, die Saat zu säen, das Getreide zu ernten und ungefähr ein Drittel davon an den Staat abzugeben. Aufgrund der vielen Arbeit, die es zu erledigen galt, sahen wir ihn recht selten.
Meine Mutter erzog uns, sie war Bäckerin und im ganzen Dorfe für ihr leckeres Brot bekannt. Wenn ich so darüber nachdenke, muss ich sagen, dass es eigentlich nichts gab, was meine Eltern nicht konnten.
Die Erziehung meiner Mutter war genauso liebevoll wie streng. Jedes von uns Kindern hatte seine Aufgabe im Haushalt. Die Mädchen putzten, kochten, nähten. Die Jungs kümmerten sich um das Vieh und machten die Feldarbeit. Wurden die entsprechenden Aufgaben nicht rechtzeitig erledigt, gab es eine angemessene Strafe.
Eine richtige Schule gab es für uns nicht. Nach Ende des Krieges gab es nur einen Raum, in dem die Sitzreihen die jeweilige Klasse bestimmten. Vorne die erste, dahinter die zweite und ganz hinten die dritte Klasse.
Sibirien war kalt, ich glaube, niemand, der nicht selbst einmal dort gelebt hat, weiß, wie kalt und herzlos ein sibi-rischer Winter sein kann. Es schneite ununterbrochen und selbst die Vorräte im Keller und unter unseren Betten gefroren. Kartoffeln, Rüben, Gurken. Doch das störte uns nicht, wir aßen sie dennoch und sie schmeckten himmlisch süß.
Über dem Wasser, welches wir tagsüber aus dem Brunnen holten und über Nacht in das Wohnzimmer stellten, hatte sich am nächsten Morgen bereits eine dicke Eis-schicht gebildet. Um durch den Schnee zu kommen, wel-cher unsere Häuser bis zu den Dächern begrub, wurden lange Seile von Haus zu Haus gespannt, um sich an ihnen fortzubewegen und durch die Haufen durchzukämpfen. Das Schneeschippen war eine anstrengende und langwierige Arbeit, die sich in den tiefsten Wintermonaten nicht lohnte, da der Schnee innerhalb von ein paar Stunden erneut das Haus bis zum Dach begraben hatte.
Dagegen waren die Sommer trocken und heiß. Wir Kinder freuten uns schon, wenn die Morgenstrahlen der Sonne das Haus erwärmten und in einen goldenen Farbton tauchten und die leichte Sommerbrise den trockenen Staub der Straßen so aufwirbelte, dass wir ihn sammel-ten, mit Wasser mischten und kleine Figuren daraus kne-teten.
Aber vielleicht kamen mir die Sommer auch nur so heiß und fröhlich vor, weil ich mich an die rücksichtslose Kälte des langen Winters gewöhnt hatte.
Wir hatten nichts, aber genau das war es wahrscheinlich, was uns zu so glücklichen Menschen machte, denn wer nichts hatte, konnte die Nächte ruhig schlafen, denn er hatte um nichts zu fürchten. Und obwohl wir nichts hatten, stets barfuß und in zerfetzten Lumpen bekleidet herumliefen, wünsche ich mir nichts lieber im Leben als meine Kindheit zurück.