Konzertlesung mit Reinhard Rakow in Illmenau (ein Pressebericht)

 
 
Zeitgeschichte
"In meinen Träumen höre ich noch heute die Kinder weinen"
Außergewöhnliche Lesung mit Musik und bedrückendem Schweigen
Von Kerstin Weber

Ilmenau - Drei Menschen standen im Mittelpunkt der

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Konzertlesung am Sonntagabend in der Jakobuskirche und gleichzeitig
viele Millionen. Jene Millionen, die ab 1. Dezember 1939 Armbinden mit
dem Davidsstern tragen mussten. Jene Millionen, die in den
Konzentrationslagern getötet wurden.

"Wir wollen heute der Vergasten und Verreckten gedenken", wie dies
Reinhard Rakow, der Rezitator des Abends, drastisch ausdrückte. Das
Wort "Verstorbene" erschien ihm offensichtlich als zu leise und zu
sauber angesichts der barbarischen Hintergründe.

Auch die junge Selma Meerbaum-Einsinger, eine Nichte Paul Celans,
"ist mit 18 Jahren an Fleckentyphus verreckt", so Rakow. In einem Poem,
das als scheinbar schönes Naturgedicht (mit begleitenden hellen
Orgeltönen von Professor Günter Berger) beginnt, beschreibt sie
schließlich das Sterben um sie herum "Hauf um Hauf sterben sie und
stehen nie wieder auf, nie, nie" sowie ihr eigenes Sterben, gegen das
sie sich wehrt.

Als noch eindringlicher und schrecklicher erweisen sich die
schriftlich fixierten Erinnerungen der polnischen Sozialarbeiterin
Irena Sendler an das Warschauer Ghetto, aus dem sie mehr als 2500
jüdische Kinder gerettet hatte. Am 16. November 1940 wurde das Ghetto
von den Nazis zum Sperrbezirk erklärt, 400 000 Juden mussten hier
vegetieren, davon 160 000 Deportierte.

In ihren Memoiren schreibt Irena Sendler: "Die Grausamkeit der
Deutschen im Ghetto kannte keine Grenzen." Die Menschen starben
schnell, "die Deutschen töteten, indem sie aushungerten", einem Jeden
wurden nur zwei Kilogramm Brot pro Monat zugeteilt.

Die Kinder wurden, nachdem die Eltern sie monatelang auf ihr neues
Leben in polnischen Familien vorbereiteten, aus dem Ghetto
geschmuggelt, versteckt unter Liegen in Krankenwagen, in Gemüse- und
Müllsäcken, in Feuerwehrfahrzeugen, in Koffern und Werkzeugtaschen,
durch Tunnel und Kanalisation. "In meinen Träumen höre ich noch heute
das Weinen der Kinder beim Abschied und mein Gewissen schmerzt mich
noch immer, dass ich nicht mehr tun konnte."

Die Namen in Gläsern vergraben

Irena Sendler bewahrte die Namen der Kinder verschlüsselt in
Gläsern, vergraben in ihrem Garten auf, damit die spätere Zuordnung zu
den leiblichen Eltern erleichtert würde. Die meisten dieser Eltern aber
überlebten den Krieg nicht. Sie wurden in Treblinka vergast.

Als im Oktober 1943 elf Soldaten das Haus der Krankenschwester
stürmten, fanden sie die gesuchten Namen nicht. Irena Sendler wurde
verhört, gefoltert. "Sie brachen ihre Beine und Füße, doch sie
schwieg". Während der Gefangenschaft wurde die zum Tode verurteilte
junge Frau Zeugin weiterer Gräueltaten der Deutschen. So erlebte sie
mit, wie ein vierjähriger Junge von einem SS-Mann zwei Bonbons
geschenkt bekam. Der Kleine war glücklich über das Geschenk und
lächelte, doch gerade als er sich noch einmal zu dem Mann umwenden
wollte, schoss dieser ihm mehrfach in den Rücken. Einfach so.

Irena Sendler wurde freigekauft und starb im vergangenen Jahr in Warschau.

Zum Schluss der ergreifenden Konzertlesung war "Das Lied vom
ausgerotteten jüdischen Volk" von Jizchak Katzenelson in der Vertonung
von Günter Berger zu hören. Reinhard Rakow (Rezitation) und
Anna-Elisabeth Muro (Sopran) trugen das Werk, das der Widerspiegelung
eines entsetzlichen Szenarios gleicht, überaus sensibel vor. "Schrei,
ausgemordetes jüdisches Volk, schrei es heraus!" lautet ein Vers des
Poems; und so schrieen die beiden den Schmerz des KZ-Häftlings
Katzenelson und des gesamten jüdischen Volkes in das Kirchenschiff,
unterstützt durch gewaltig donnernde, sirenenähnliche Orgeltöne.

Die gut 40 Zuhörenden waren so erschüttert und benommen, dass im
Anschluss erst einmal minutenlang Stille herrschte, bevor der Applaus
die bedrückende Atmosphäre zumindest ein wenig lösen konnte.