Lisa ernst: Ich bin ich? (Preisträgerin aus der Anthologie 'Wer eigentlich bin ich?'

Ich bin ich?
Lisa Ernst

(3. Preis der Bürgerstiftung der Stadt Vechta)


Wer bist du?
Ich bin ich.
Wer ist ich?

Ich bin ich in Menschenmengen
Ich bin ich allein zu Haus
Ich bin ich umrundet derer, die mich kennen
Ich sieht woanders anders aus
Ich war ich vom ersten Herzschlag an
Ich bin ich erst geworden
Ich hab ich verzweifelt gesucht
Und so manches mal verflucht
Ich hat mit mir Verstecken gespielt, viele Runden
Ich hab ich nie gefunden

Wer bist du?
Ich bin ich.
Wer ist ich?

Ich ist der Schatten meiner Erinnerungen
Vom ersten Wort zur Rede
Vom Sandkasten zum Architekt
Vom Pinselstrich zum Gemälde
Ich ist die Summe meiner Ahnen,
Eine komplexe Addition

Ich widerspiegelt sich in meinen Taten
Ich, meine eigene Komposition

Wer bist du?
Ich bin ich.
Wer ist ich?

Ich ist ein Personalpronomen, mit dem der Aussa-gende auf sich selber verweist
Ich ist ein Zug, der manchmal entgleist
Ich ist ein kluger Denker, ein echter Feingeist
Ich sieht man als Schenker und bei der Arbeit
mit viel Fleiß
Überrascht findet ich Leute, die die selbe Vision tei-len
Um ich zu finden, laufen viele hundert Meilen
Ich ist das Blatt eines Baumes, das vom Wind hin und her geschleudert wird
Und die Seele, die in dunkler Welt krepiert

Wer bist du?
Ich bin ich.
Wer ist ich?

Ich meint Existenz auf Zeit
Ein Wegweiser in die Vergangenheit
Das Leben ist ein Puzzle und ich das Teil,
das niemals ganz passt
Ich hat eine Gestalt von Zehenspitze bis Haaransatz
Viele trauen sich nicht, ich zu sein
Werden lieber zu einem er oder einer sie
Ein Leben als erbärmliche Kopie
Ich hat einen und viele Namen
Ich gibt Zeugnis, dass wir mal waren

Wer bist du?
Ich bin ich.
Wer ist ich?

Wär ich ich mit anderem Namen?
Säh mein Leben anders aus?
Bin ich nur eine junge Kopie meiner Ahnen?
Wär ich ich in einem anderen zu Haus?
Was denkst du, wenn ich den Raum betrete, über mich?
Was denke ich über mich?

Wer bist du?
Ich bin ich.
Wer ist ich?

Ich ist gleichzeitig ein Dämon und ein Engel
Ich ist ein Kind seiner Zeit
Ich war ich schon als kleiner Bengel
Ich ist nichts für die Ewigkeit