LOG Zeitschrift für internationale Literatur rezensiert Heinrich Rahns Roman: Der Jukagire

LOG Zeitschrift für internationale Literatur
Ausgabe 123 / 2009 XXXI
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LEV DETELA und WOLFANG MAYER-KÖNIG
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DAS MAGAZIN DER ALTEN UND DER NEUEN BÜCHER LXXVI

AUF DER FLUCHT IN SIBIRIEN

Heinrich Rahn. Der Jukagire. Roman. Geest-Verlag, Vechta - Langförden, Deutschland. 2008. 267 Seiten.

Heinrich Rahn erzählt im vorliegenden Roman eine außergewöhnliche Geschichte über die Menschen, die sich ausgesondert, verbannt inmitten einer Welt der Gewalt und der Repressionen behaupten müssen. In einem gewissen Sinne erzählt er teilweise auch seine eigene Lebensgeschichte. Er selbst, geboren 1943 in der Ukraine in einer deutschen Familie, wurde in der Zeit der Diktatur Stalins noch als Kind nach Nord¬sibirien deportiert, kam danach nach Kasachstan und konnte erst 1990 nach Deutschland ausreisen, wo er jetzt lebt.
Im Vordergrund dieses Romans eines Autors aus der wenig bekannten russlanddeutschen Literaturszene, der auch ein emsiger Mitarbeiter unserer Zeitschrift LOG ist, steht der Bericht über den Waisenjungen Ivan Nickel, der ohne Eltern, des russlanddeutschen Vaters und der Mutter aus dem Nomadenvolk der Jukagiren, die aus politischen Gründen umgebracht wurden, in einem kommunistischen Internat Ostsibi¬riens aufwächst. Vor allem die Szenen aus diesem Internat mit dem Leiter des Sonderwaisenhauses Ser¬gejew und die folgenden Beschreibungen der Begegnungen mit der Tochter des dortigen Försters Mari¬scha werden einprägsam dargestellt. Behutsam und gekonnt berichtet Rahn über die Entstehung einer inständigen jungen Liebe, die mit prächtigen Bildern der eigenartig schönen Landschaft Sibiriens umrahmt ist.
Die weitere Entwicklung des Schicksals von Ivan Nickel und Marischa erfolgt eigentlich als eine Folge von "mythischen Symbolen", mit denen das Geschehen immer mehr verwoben ist.
Im Zentrum des Romans, der eine Vielzahl von Einzelschicksalen ausbreitet und die düstere Atmosphäre der sowjetischen Stalinzeit gut verdeutlicht, steht die eigenartige Liebesgeschichte von Ivan und Mari¬scha. Durch die widerlichen äußerlichen Zustände wegen der manipulierten Fakten nach einem Jagdvor¬fall mit tödlichen Folgen wenden sich aber die Ereignisse gegen die beiden Liebenden, deren Leben sich in den Weiten der Taiga verirrt. Ivan wird nämlich beschuldigt, den Tod des Leiters des Waisenhauses, der eine illegale Jagd mit korrupten Funktionären der kommunistischen Partei organisiert hat, mitverursacht zu haben. Er wird in ein sibirisches Straflager, in dem die unmenschlichen Bedingungen herrschen, ver¬setzt. Es gelingt ihm aber, mit ein paar verbündeten Strafgefangenen zu fliehen und sich in der Taiga jah¬relang zu verstecken.
Der Autor zeigt seine Protagonisten in vielen Grenzsituationen, wo sie ihr verborgenes Wesen offenbaren können. In verschiedenen Episoden werden die Teile des Erzählvorganges auf mehreren Orten des Geschehens vorgestellt und vermischt, ohne dass dabei die Kontinuität des Erzählens verloren geht. Rahns Bericht über die politisch verfolgten Menschen auf der Flucht, seine Schilderungen ihres Leben als "bivsi ljudi - ehemalige Menschen« ohne Papiere und ohne Geld in der Wildnis Sibiriens, lesen sich stel¬lenweise als eine märchenhafte Ballade. Die einprägsame realistische Erzählweise des Anfangs vermischt sich immer mehr mit mystisch und esoterisch anmutenden Elementen, mit denen der Autor die Umwand¬lung seines jungen Helden Ivan Nickel in einen Schamanen nicht ganz überzeugend zu erklären versucht. Herrliche Naturschilderungen paaren sich mit abenteuerlichen Ereignissen und Beschreibungen der geheimnisvollen Religionsformen der sibirischen Naturvölker, mit denen der ungerecht verfolgte Ivan Nickel immer mehr verschmelzt, um sich schließlich in einen mächtigen Schamanen der Jukagiren verwandeln zu können. Getrennt von seiner Jugendliebe Marischa gründet er mit einer Sibirierin sogar eine Familie. Doch die Sehnsucht nach seiner ersten Liebe lässt ihn nicht zu Ruhe zu kommen. Nachdem sie sich endlich nach langer Trennung und vielen Prüfungen wiedersehen und wiederfinden (die mit einem anderen Mann verheiratete Marischa hat einen Sohn, dessen Vater Ivan ist), überschlagen sich die Ereig¬nisse, ohne den geheimnisvollen Knoten des menschlichen Schicksals inmitten der Universalität der Welt und des Kosmos zu enträtseln.

                                                                           LEV DETELA