Milla Caselmann - Ich in meiner Welt von morgen

Milla Caselmann (Duderstadt, 17 J.)
Ich in meiner Welt von morgen

Was ist Zukunft? Ist morgen schon Zukunft oder übermor-gen? Oder ist in einem halben Jahr erst Zukunft?
Ich liege im Garten unter dem Apfelbaum, der hier schon seit Ewigkeiten steht. Der über all die Jahre gewachsen ist, größer und kräftiger geworden und nun wieder voller Äpfel ist, aber der schon immer hier stand. Wird er morgen, in Zukunft auch noch hier stehen? Und was ist mit mir? Werde ich immer nur hier liegen? In den Himmel starren und mir unbeantwortbare Fragen stellen?
Ich denke mir gerne Geschichten aus, habe ich schon immer gemacht, meist mit einem Happy End. „Meine kleine Träumerin“, hat mein Vater mich früher immer genannt.
Ich erzähle jetzt eine solche Geschichte, meine Geschichte.
In Zukunft, später einmal, werde ich studieren, vielleicht Jura oder Medizin, denn so ein Beruf bringt heutzutage be-kanntlich nicht nur Geld, sondern auch Ansehen in unserer Gesellschaft, vielleicht in Oxford oder Cambridge, denn da-nach sind meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt höher. Ich werde eine Arbeit in einem erfolgreichen Unternehmen ha-ben und die Erfolgsleiter zügig hochklettern. Ich werde viel reisen, die Welt sehen, vielleicht Ratgeber schreiben darüber, wie man in der heutigen Zeit Erfolg hat, wie man im-mer noch besser werden kann.
Und dann werde ich eines Tages nach einem langen, erfüllten und von vielen bewunderten Leben in Ruhe und Frieden einschlafen, nicht mehr aufwachen, aber auf dieser Welt etwas von mir hinterlassen haben.
Das wäre doch eine schöne Geschichte und meine Fragen zur Zukunft, zu meinem Leben wären geklärt.
Leider bin ich nicht mehr das kleine träumerische Kind, das an all das Gute in der Welt glaubt. Ich weiß, wie das Leben funktioniert, oder viel eher, wie es nicht funktioniert.
Die Erde hat sich verändert und tut es mit jedem Tag mehr.
Mein Leben müsste also anders aussehen: Ich würde die Schule nicht zu Ende machen, weil ich, wie viele andere junge Menschen, bereit wäre, den Kampf für den Klimawandel und gegen die Politiker, unsere Konsumgesellschaft und all das Leid auf der Erde, über unseren eigenen sozialen Status, über eine von anderen vorgegebene, bestimmte Art des Lebens zu stellen. Die Universität, der spätere Beruf, das alles hätte plötzlich keine Bedeutung mehr, weil langsam alle erkennen würden, was wirklich wichtig ist, und dass man mit Geld kein Leben auf einem langsam verrottenden Planeten kaufen kann.
Aber ich glaube, auch so wird mein Leben nicht verlaufen. Ich wäre gerne eine Klimaretterin, eine, die es nicht interes-siert, was andere von ihr halten, und die eben gerade so alle beeindruckt. Eine, die alle Probleme auf ihre Weise lösen könnte.
Aber das funktioniert nicht, wenn man sich bei jeder Klei-nigkeit überlegt, was andere dazu sagen, ob man damit jetzt auch ja nicht zu sehr auffällt.
Ich bin zu angepasst, ich wurde von dieser modernen, neuen Welt geformt. Und jetzt?
Jetzt bin ich „aufgeklärt“, kann mir meine eigenen Urteile, Meinungen und Ansichten bilden, aber kann ich sie auch vertreten? Kann ich mich allein gegen Andersdenkende, und davon wird es immer viele geben, behaupten? Kann ich mich solchen Leuten in den Weg stellen, sie vielleicht auch zum Umdenken bringen?
Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich kann den Satz des Pythagoras erklären, die unregelmäßigen Verben in Spanisch durchkonjugieren, aber ich glaube nicht, dass ich mit meinen fast 18 Jahren die Welt vor ihrem Untergang bewahren kann. Was eine traurige Erkenntnis.
Alles in unserem Leben ist auf die Zukunft ausgerichtet. Man geht zur Schule und lernt, um einen guten Abschluss zu machen, um eine gute Arbeit zu bekommen, um gutes Geld zu verdienen, um … ja was eigentlich? Um sagen zu können: Ich habe mit Fleiß und Ehrgeiz an einem Leben ohne Geldsorgen gearbeitet.
Wenn es das ist, worum es in unserem modernen Leben geht, dann muss ich Sie wohl enttäuschen.
Ich möchte nicht die Welt retten, bleiben wir realistisch, das kann ich einfach nicht. Aber vielleicht rette ich dafür mich selbst. Vor diesem Schwarz-Weiß-Denken, vor dem Es-allen-recht-machen, vor dem Sich-beweisen-müssen. Dafür muss ich noch etwas, eher noch einiges tun. Ich muss mich von einer bisherigen Art des Denkens verabschieden. Aber hey, ich habe ja auch ein ganzes Leben dafür Zeit.