Naumburger Tagblatt veröffentlicht Rezension von Gottfried Meinholds 'Prag Mitte Transit'

Literatur

Großer Abgesang auf einen gescheiterten Weltentwurf

Gottfried Meinhold legt sein Epos «Prag Mitte Transit» über 1968 vor

von Udo Scheer, 08.09.08, 16:39h, aktualisiert 08.09.08, 16:42h
Prag Mitte Transit
Gottfried Meinhold: Prag Mitte Transit. Roman, Geest Verlag Vechta 2008, 600 S., 20 Euro

Bild als E-Card versenden Bild als E-Card versenden

Jena/MZ.
Exakt 40 Jahre nach der gewaltsamen Niederschlagung des "Prager
Frühlings" hat der Jenaer Autor Gottfried Meinhold den Roman einer
ganzen Epoche vorgelegt. Eingebettet in eine Familiensaga entwirft er
auf 600 Seiten ein deutsch-tschechisches Geschichtspanorama zwischen
1968 bis 1989.

In der DDR galt Meinhold als Geheimtipp für
gesellschaftskritische Science-Fiction. Nach seinem Debütroman "Molt
oder der Untergang der Malteker" 1982 erschienen seine Bücher nur noch
mit mehrjähriger Zensurverzögerung. Zugleich führte der heute
emeritierte Professor der Sprechwissenschaften ein Randdasein an der
Jenaer Universität. Nach 1989 war er als Prorektor maßgeblich an ihrer
Umgestaltung beteiligt.

Im Roman "Prag Mitte Transit" verbinden sich Erzählkunst
und seltene zeitgeschichtliche Dokumente zu einer einmaligen Chronik.
Meinhold zieht den Leser hinein in den obsessiven Entstehungsprozess
dieses Romans, in dem sein Alter Ego Eckard, wie Meinhold
Universitätsmitarbeiter und Autor, zugleich zum Bindeglied wird.

Der Schock über den Einmarsch der "Bruderarmeen" entlädt
sich in hektischen Aktivitäten. Zusammen mit seiner Frau Edith und dem
befreundeten Ehepaar Pierre und Katharina ist Eckard begierig auf jede
Information - vom dramatischen Hilferuf Radio Prags bis zur
verzweifelten Rede Dubceks nach dessen Rückkehr aus Moskau. Sie
stempeln und verteilen Protestflugzettel, immer die Verhaftungsgefahr
vor Augen. Auf der Rückfahrt von der Trauer für Jan Palach, der durch
seinen Flammentod auf dem Prager Wenzelsplatz ein politisches Fanal
setzte, wird Pierre mit oppositionellem Material im Gepäck verhaftet
und verurteilt ...

Es gibt wunderbar erzählte Impressionen aus dem alten Prag mit
seinen Gassen und dem Jüdischen Friedhof, auf den Spuren Kafkas und in
die tschechische Opposition. Aber der Leser ist auch hautnah dabei,
wenn Demonstranten mit Hakenkreuzen auf sowjetischen Panzern gegen die
zweite Besetzung protestieren, wenn Freitode in Tschechien und 1976 die
Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz die Nervenstränge der Regierenden
blank legen, wenn im Herbst 1989 auf dem Prager Wenzelsplatz 750 000
die "samtene Revolution" ausrufen und wenn die Berliner Mauer fällt.

Beinahe süchtig werden kann man auf jene eingestreuten, den
Handlungsfluss aufbrechenden Miniaturen, in denen das fiktive Volk der
Kaskadier ein eigenes Wissen besitzt. Wie Hobbits in der Welt der
Diktaturen entziehen sie sich nach eigener Logik der Fremdgewalt und
persiflieren sie. Damit weiten sie den Blick über das Romangeschehen
hinaus. In einem dieser literarischen Kabinettstückchen, fast am Ende,
stürmten die Kaskadier die verhassten Bastillen. Die Wächter ließen
"sich entwaffnen, ohne ein Wort..., sie zogen freiwillig ihre Uniformen
aus und zündeten sie an, sie... brauchten viel Zeit, um zu begreifen,
dass auch sie zu den Befreiten gehörten."

Gottfried Meinhold ist ein großer Abgesang auf einen
gescheiterten Weltentwurf gelungen und zugleich ein bestechendes
literarisches Zeitgemälde.