Norbert Harms - Weserstraßen-Wochenende

Norbert Harms, Oldenburg
Weserstraßen-Wochenende


Als Kleinkind habe ich die alte Wohnung in Harrien unterm Deich verlassen und komme nach achtzehn Monaten als jetzt Dreijähriger in die neue Wohnung in der Weserstraße. Eine Familie mit vier Kindern teilt sich eine 55 qm große Wohnung und ist so glücklich darüber, nicht mehr den tyrannischen Vermieter ertragen zu müssen. Eigentlich sind wir ja fünf, aber Fred war ja nicht mehr zu Hause.  
In der Küche der neuen Wohnung gibt es unter dem Fenster Einbauschränke, die für Töpfe oder Vorräte gedacht sind. Immer wieder sind sie mein Versteck, weil sie nicht voll sind und Lüftungsschlitze nach au-ßen haben, durch die Licht schimmert. Es riecht nach Feuchtigkeit und altem Fett, ist aber gemütlich. Mein geheimer Beobachtungsposten.
Das Mobiliar wird modernisiert. Statt des alten Küchenbüffets werden Hängeschränke eingebaut, mit blassgelber und blassblauer Resopalfront. Die Woh-nung im Erdgeschoss ist fußkalt, denn direkt darunter liegen die Kellerräume. Auch der später angeschaffte, orangefarbene, geflochtene Plastikteppich ändert daran nicht viel. Oft bleibe ich mit den Füßen darauf kleben.
In der guten Stube und im Kinderzimmer, in der Küche und im Bad gibt es Kohleöfen, nur im Schlafzimmer nicht. An kalten Wintermorgen hauche ich Löcher in die Eisblumen auf der Scheibe, wenn ich mich aus dem Bett getraut habe. Meistens warte ich damit, bis ich das Rütteln des Kohleofens in der Stube, mit dem die Asche vom Vortag von Papa oder Mama rausgeholt wird, gehört habe. Dann weiß ich, es wird gleich warm.
Kohle und Briketts lagern im Keller. Im Herbst schüttet der Kohleonkel die Säcke durch das Kellerfenster. An dieser Stelle im Keller wird später der 1000-Liter-Öltank stehen, der dann einmal auslaufen wird und eine Katastrophe für Mama bedeutet. Monatelang ist der Ölgeruch im ganzen Haus wahrzunehmen.
Heute ist Samstag, der Tag, an dem der Kohleofen im Bad angefeuert wird. Er ist riesengroß und warm. Bevor ich mit Baden dran bin, hole ich noch schnell ein Kissen mit Ei-Shampoo von Rinnelt, dem Laden in unmittelbarer Nachbarschaft. Mit meinen nackten Füssen stehe ich jetzt auf dem kalten Fliesenboden und meine Mama rubbelt mich mit einem kratzigen Handtuch ab. Ich muss mich gar nicht mehr anziehen, nur den Schlafanzug. Darunter habe ich ein warmes, aber juckendes Wollhemd an, in meinen Filzschuhen, die Tante Hildegard aus der DDR geschickt hat, laufe ich dann mit dem Handtuch über den nassen Haaren in die gute Stube. Dort darf ich auf das Sofa, mich in eine Decke kuscheln und den Fernseher anmachen. Es gibt nach den Nachrichten ‚Einer wird gewinnen‘ mit Hans-Joachim Kulenkampff. Es wird ein ent-spannter Abend.
Am nächsten Morgen geht es mit Mama und Oma in die katholische Kirche, um zehn Uhr ist Hochamt. Wir laufen im Sonntagsstaat quer durch die Stadt. Auf dem Weg dahin schließen wir uns oft anderen Katholiken an. Es sind nur alte Frauen, außer Harry und Jockel Hoppmann mit ihrer französischen Mutter. Mit den beiden Jungs habe ich mich angefreundet. Es sind übergewichtige Brüder, deren Vater ein großes Tier bei der Bundeswehr ist. Deshalb wohnen sie in einem Offiziershaus auf dem Kasernengelände. Die Mutter ist klein und rundlich und macht oft leckeres Essen für ihre Jungs, wie zum Beispiel süße Grießschnitten, die in unerschöpflichen Mengen auf Back-blechen in der Offiziershausküche bereitstehen. Sie und ich als ihr Freund müssen uns nur bedienen. Ich beneide Harry und Jockel, sie können sich an allem bedienen, was das Haus hergibt, während ihre Mutter an einer Staffelei Ölbilder malt oder Klavier spielt oder schläft und der Vater Soldaten Befehle erteilt. So einen Haushalt kenne ich überhaupt nicht. In unserer wenige Jahre späteren Vorpubertät holen wir statt Grießschnitten Zigaretten und Alkohol aus der Bar des Offiziershauses.
Nur wenige hundert Meter von der Wohnung auf dem Kasernengelände haben wir uns aus Brettern, Steinen und Sträuchern einen gut getarnten Treffpunkt gebaut. Dort probieren wir alles aus. Immer wieder holen Harry und Jockel Nachschub von allem, ich beneide sie um deren Selbstbestimmung. Allerdings lassen sich kurze Zeit später die Eltern scheiden, Harry und Jockel ziehen, damals sehr ungewöhnlich, zum Vater nach Süddeutschland und besuchen dort ein Internat. Ich möchte nie allein mit mei-nem Vater leben und ein Internat besuchen.
Frau ‚Oppmann‘, wie sie sich selbst nennt, lebt noch lange allein in der Offizierswohnung und sonntags wackelt sie zur katholischen Kirche. Auf dem Rück-weg, nach dem Hochamt, treffen wir sie häufig im Café Volkmann. Dort holt sie, wie wir, Stücke von der leckersten Käse-Sahne-Torte aus ganz Brake. Mit den Kuchenpaketen in der Hand geht es quer durch das Binnenhafengebiet zurück zur Weserstraße, wo mein Papa mit Overstolzstummel im Mund schon Sauer-kraut zum Braten gekocht hat.

aus: Umarmungen. Anthologie der 8. Berner Bücherwochen. Geest 2021