Offener Brief von Holger Evang-Lorenz und Gunnar Evang an Wolfgang Thierse

Köln, den 06.04.2021

Sehr geehrter Herr Thierse,
in Ihrem Interview im Tagesspiegel vom 03.04.2021 teilen Sie mächtig aus:
Eine klare und gut belegte hermeneutische Analyse nennen Sie bösartig; einen durchaus berechtigten Argwohn gegenüber uns alten weißen Männern, ob nicht auch in uns noch rudimentär ererbte, unbewusste Überreste eines nach wie vor in der deutschen Gesellschaft virulenten Rassismus schlummern könnten, empfinden Sie als rassistischen Angriff auf Ihre intellektuelle und politische Integrität. Das, sehr geehrter Herr Thierse, befremdet uns als zwei ebenfalls alte weiße deutsche Männer doch sehr.
Was ist denn so schlimm an diesen kritischen Nachfragen? Homophobie, Sexismus und selbst struktureller Rassismus sind ja niemals Bestandteile menschlicher DNA, auch nicht der DNA des alten weißen Mannes. Ganz im Gegenteil: Rassismus, Sexismus und Homophobie sind korrigierbar, durch stetige Bewusstmachung sogar heilbar. Vorausgesetzt, wir bleiben selbstkritisch, belehrbar und zugewandt. Dabei sollten wir alten weißen Männer uns hüten, zu garstigen alten weißen Männern zu mutieren, die sich aufgrund unbequemer Nachfragen einem gemeinsamen dynamischen Lernprozess verweigern und in monoman-rechtfertigendem Dozieren der Versteinerung anheimgeben.
Nichts gegen politisches Austeilen, wie Sie es derzeit praktizieren. Jedoch ist Austeilen nur so lange sinngebender Bestandteil einer gelingenden demokratisch-erwachsenen Gesprächskultur, wie der Austeilende die Bereitschaft des respektvollen Zuhörens an den Tag legt - und ebenso die Empathie zugunsten derer aufbringt, die er u.U. mit seinem heftigen Austeilen verletzt hat.
Das alles lernen wir, wenn’s gut geht und wir nicht unseren narzisstischen Deformierungen erliegen, bereits im Vorschulalter: Wer austeilt, muss auch einstecken können, und zwar ohne Schaum vorm Mund. Einstecken können bedeutet auch, erst einmal innezuhalten und eben nicht beleidigt oder per se unbelehrbar mit dem Austeilen fortzufahren ohne Rücksicht auf Verluste.
Dass Sie Opfer rassistischer Verunglimpfungen angesichts einer u.U. berechtigten Kritik von Medien und insbesondere von Seiten der durch Sie sichtbar verletzten schwulen, lesbischen, trans- und intersexuellen Mitmenschen geworden seien, das, sehr geehrter Herr Thierse, glauben Sie doch allen Ernstes selber nicht! Zumindest dann nicht mehr, wenn Sie sich – bitte einmal ganz ohne Selbstmitleid – den gesamten Dialog, zu dessen Verhärtung insbesondere Sie selbst ja nicht unmaßgeblich beigetragen haben, einmal aus der Meta-Ebene anschauen.
Nein, Sie sind wahrlich kein Opfer rassistischer Verunglimpfung.
Spüren Sie nicht, dass Sie mit Ihrer diesbezüglich anmaßenden Koketterie alle wirklichen Opfer von Rassismus, Sexismus und Homophobie verhöhnen?
Über Jahre hinweg begleiteten mein Mann und ich schwerst traumati-sierte lesbische Frauen aus Subsahara- und Südafrika, die fliehen muss-ten, nachdem sie von Männern eines ganzen Dorfes vergewaltigt wurden - bestialischste Verbrechen unter dem absurden Vorwand, man habe die sexuelle Orientierung dieser Frauen korrigieren müssen.
Und: Nach wie vor begleiten mein Ehemann und ich zahlreiche aus Erbil (Nord-Irak) und aus Sulaimaniyya (Nord-Irak) geflohene schwule Männer. Einer von ihnen wurde von deutschen Staatsbürgern bis zur Unkenntlichkeit verprügelt.
Das, sehr geehrter Herr Thierse, sind Opfer von Rassismus, Sexismus und Homophobie.
Sie hingegen sind wahrlich kein Rassismus-Opfer. Sie beweinen lediglich, dass man Ihnen Ihre mangelnde sprachliche Sensibilität im Blick auf schwule, lesbische, trans- und intersexuelle Menschen nicht mehr durchgehen lässt.
Mein Ehemann (Projektmanager einer Digitalagentur) und ich (ev. Pfarrer in Ruhe, Pastoralpsychologe, Supervisor) wurden am 03.02.1996 kirchlich getraut, sind rückwirkend aufgrund entsprechender Synodalbeschlüsse in den Kirchenbüchern der Ev. Kirche im Rheinland als rechtmäßig kirchlich getraut eingetragen und seit dem 01.08.2001 standesamtlich verheiratet.
Insbesondere in meinen ersten Dienstjahren haben mich zunehmend schwerst traumatisierte Männer um seelsorglichen Beistand gebeten, die in Westdeutschland noch bis Ende der 60er Jahre nach der von den Nazis verschärften Fassung des § 175 verurteilt worden waren. Ich musste miterleben, wie nachhaltig deren Leben bis zu ihrem letzten Atemzug ein gezeichnetes und zutiefst verletztes blieb. Viele dieser in ihrer emotionalen, beruflichen und gesellschaftlichen Existenz zerstörten Menschen starben plötzlich - manche, obwohl sie physisch noch kerngesund erschienen.
Ab Anfang der 1990er Jahre begleitete ich ungezählte junge Frauen und Männer in meinem Dienst als Klinikpfarrer sowie später als Pfarrer i.R. in Notaufnahmen und Kliniken nach Suizidversuchen, u.a. weil ihre vermeintlich gottesfürchtigen Familien sie gnadenlos verstoßen hatten und diese jungen Lesben und Schwulen an solchen und zahllosen anderen schmerzlich verweigerten Zugehörigkeiten innerlich zerbrachen. Da war oftmals niemand mehr aus ihrem heterosexuellen Umfeld, der oder die sich mit ihnen solidarisiert hätte: Mütter nicht, Väter nicht, Schwestern nicht, Brüder nicht. Nichten nicht. Neffen nicht. Fromme Tanten und Onkel spuckten vor ihnen aus. Andere boten an, für die verirrten Seelen der Unzüchtigen, mehr noch für ihre bedauernswerten Familien zu beten.
Mein Ehemann hat als einfühlsamer sowie äußerst engagierter Pfarrmann meinen pfarramtlichen Dienst in Gemeinde und Klinik sowie unser bis heute währendes Engagement für Asylsuchende jahrzehntelang mitgetragen. Solidarisch, tatkräftig. Wenn junge Frauen bei uns übernachten mussten, um einer Zwangsehe zu entgehen, hat er ohne viel Federlesens das Gästebett bezogen und gefragt: „Isst Du halal? Was möchtest Du trinken?“
Stets konnten wir dabei auf ein gutes Netz von Anwält*innen, engagierten Sozialarbeiter*innen und Freund*innen zurückgreifen, die uns in unserer Arbeit für geflüchtete oder bedrohte Menschen hilfreich zur Seite standen.
Nie haben wir aus unserer gleichgeschlechtlichen Ehe ein Hehl gemacht. Bei sämtlichen kirchlichen wie gesellschaftlichen Empfängen war mein Ehemann seit 1995 an meiner Seite. Die Blöße homophober Ausgrenzung mochten sich selbst CDU-Hardliner nicht geben.
Sehr geehrter Herr Thierse,
seien Sie sicher: Wir fühlen uns als kirchlich getrautes homosexuelles Silberhochzeitspaar als völlig normale evangelische Christen und ebenso als völlig normale Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland.
Und seien Sie ebenso sicher: Die Allermeisten (auch der uns in den letzten Jahrzehnten homophob begegnenden Menschen) hegen heute nicht mehr den geringsten Zweifel an unserer Normalität.
Doch mit der sprachlich schillernden Valeur des Adjektivs „normal“ ist das ja so eine Sache. Die verschiedenen Implikationen und Konnotationen, die diesem Wörtchen „normal“ innewohnen, dürften Ihnen geläufig sein.
Es steht Ihnen frei, sich im Blick auf die gezielte Anwendung des Be- und Entwertungspotenzials dieses Adjektivs öffentlich ganz unschuldig zu gerieren, jedoch werden Sie dadurch, sobald Sie sich ehrlich gegenüber sich selbst machen, keineswegs zu einem Unschuldslamm. Selbst wenn Sie’s noch so oft wiederholen.
Mit der Verwendung dieses zweifelsohne mehrdeutigen Terminus‘ „normal“ haben Sie bewusst Öl ins Feuer des gesamten Diskussionsverlaufs gegossen. Mit ethischer wie intellektueller Redlichkeit werden Sie sich dies auch eingestehen können:
Wenn Sie das Adjektiv „normal“ im Kontext einer politischen Auseinandersetzung um lesbische, schwule, trans- und intergeschlechtliche Menschen benutzen, dann wissen Sie, was Sie tun!
Denn selbstredend ist Ihnen - und zwar nicht nur als Germanist, sondern als jemand, der politisch mit Sprache umzugehen und diese gezielt einzusetzen weiß - die Mehrfachbedeutung des Wortes "normal" geläufig. Wir lesen wahrscheinlich die gleiche jüngste Ausgabe des Dudens, der explizit vor der Mehrfachbedeutung dieses Adjektivs warnt. Er benennt einerseits "normal" im Sinne von gewöhnlich / durchschnittlich, warnt aber zugleich vor der wertenden und entwertenden Nutzung des Adjektivs "normal" als Abgrenzung von angeblich nicht-normaler Behinderung (hier ein Beispiel aus dem Dialog mit einer Nachbarin im vergangenen Herbst: "In Klasse 5c, die unsere Anna jetzt besucht,  werden ja seit Neuestem behinderte und ganz normale Kinder gleichzeitig unterrichtet") sowie als Abgrenzung Heterosexueller von angeblich nicht-normalen schwulen, lesbischen, trans- und intersexuellen Mitmenschen (hier ein Gesprächsbeispiel  auf der Hundefreilauf-Fläche: "In unserer Kleingartenanlage verpachten wir seit 2017, also seitdem Homosexuelle wie ganz Normale heiraten dürfen, einzelne Parzellen auch an solche Männerpaare").
Eine Differenzierung dieser zumindest mehrdeutigen Konnotationen des Adjektivs „normal“ dürfte für Sie als Germanist und als im Umgang mit Sprache Versierter nicht zu anspruchsvoll sein.
Was Ihre Normalitätsvorstellungen im Blick auf durchschnittliche SPD-Genoss*innen oder SPD-Wähler*innen betrifft, so gibt es sie längst: Die genderbewusst sprechenden Frauen und Männer, auch die selbstbewusst schwul oder lesbisch lebenden Oberärzt*innen, Fleischfachverkäu-fer*innen, ungelernten Arbeiter*innen und KFZ-Meister*innen, also die ganz bunt gemischte und seitens der SPD so inbrünstig zurückersehnte sozialversicherungspflichtig arbeitende Klientel, der Sie sich sinnloser-weise mit Normalitätsvorstellungen der 1950er und 1960er BRD-Jahre anzubiedern versuchen. Kein Wunder, dass Ihnen u.a. gerade ein Herr Gauland für eine solche aus AfD-Perspektive grandiose Rolle rückwärts Lob und Anerkennung zollt.
Stattdessen erlauben wir uns, Ihren Blick zu weiten auf eine Kernaussage des anglikanischen Theologen und Menschenrechtlers Desmond Tutu, von 1986 bis 1996 protestantischer Erzbischof von Kapstadt und Primas der Church of the Province of South Africa, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1984:
"Diskriminierung und Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ist ein Unrecht genau wie Rassismus.“
Sehr geehrter Herr Thierse,
wie immer Sie sich zu unserer Kritik an Aussagen Ihres Interviews verhalten mögen – schauen Sie mit uns nach vorn und gehen Sie mit uns den Weg der Solidarität mit den Opfern von Sexismus, Rassismus und Homophobie!
Wir sprechen Sie daher zuallererst an als praktizierender katholischer Christ:
Seien Sie innerkirchlich mutig, insbesondere im Engagement für die gegenwärtigen Opfer von kirchlicher Homophobie.  
Sagen Sie öffentlich und entschieden "Nein" zu dem jüngst ergangenen menschenverachtenden Verbot des Vatikans im Blick auf die Segnung homosexueller Paare.
Solidarisieren Sie sich mit dem nun beginnenden kirchlichen Ungehorsam der Bistümer in Deutschland.

Gleichermaßen sprechen wir Sie an als ehemaliger Bundestagspräsident:
Seien Sie politisch mutig, insbesondere im Blick auf die fatale menschenrechtspolitische Situation von schwulen, lesbischen, trans- und intersexuellen Mitmenschen in den Ländern Subsahara-Afrikas. Lassen Sie sich vom Auswärtigen Amt informieren, in welchen Ländern homosexuelle Mitmenschen mit langjährigen Gefängnisstrafen bedroht werden und in welchen Ländern Subsahara-Afrikas ihnen inzwischen die Todesstrafe droht.
Und: Sagen Sie ein klares "Nein" gegenüber der seit vergangener Woche zunehmenden Schwulenverfolgung in der südkurdischen Universitäts-stadt Sulaimaniyya (Slemani / Nord-Irak). Die Bundesrepublik Deutsch-land steht in engem diplomatischen sowie militärischen Kontakt zur Peschmerga-Regierung. Ein Übermaß an Mut würde daher eine diesbe-züglich klare anti-homophobe Positionierung für Sie nicht bedeuten.

Mit guten Wünschen für die Osterwoche,
damit der darin ersehnte Aufstand des Lebens nicht nur ein primär leiser, d.h. individuell-spiritueller bleibt, sondern ein für alle Welt spürbarer Aufstand für das Leben wird,

Holger Evang-Lorenz und Gunnar Evang

--
Gunnar Evang
Medienberater
&
Pfr.i.R.
Holger Evang-Lorenz
Pastoralpsychologe/Supervisor
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