Olaf Bröcker: Nachwort zu Emma Lüers: Ein Spaltbreit Freiheit


Wer in der Schreibwerkstatt mitmacht, ist schon an sich irgendwie anders. Nein, hier treffen sich keine Außenseiter, aber irgendwie sind die Schülerinnen und Schüler, die sich an jedem Freitagnachmittag treffen, um zu schreiben und sich das Geschriebene dann vorzulesen, eben ... anders.
Und manche sind noch ein wenig mehr anders. So wie Emma. Zunächst einmal, weil sie das einzige Mitglied der jetzigen Schreibwerksatt ist, das nahezu keine Lyrik schreibt. Emma erzählt. Ihre Prosa ist im Laufe der Jahre länger geworden, um sich in den letzten Monaten wieder zu verkürzen. Emma kann beides. Ihre langen Texte sind nicht weitschweifig, sondern ähnlich dicht wie Lyrik. Sie flimmern geradezu vor lauter sprachlichen Bildern, wechseln immer mal wieder die Form oder das Genre – mitten im Text – und erzählen sehr oft anhand von Figuren, die mit wenigen Worten herausgearbeitet werden. Dazwischen stehen ganz kurze Worte, Aphorismen, die ihr Schreiben aufschlüsseln; nie zu genau, aber immer mit einem Hinweis, was das Schreiben für Emma bedeutet.
Worüber schreibt Emma? Bis ich die Zusammenstellung in diesem Buch und vor allem das erste Kapitel gelesen habe, war mir nicht klar, wie bedeutend das Thema „Natur“ in Emmas Texten ist; Natur als Ort der Freiheit, also im Gegensatz zur Kultur, zur Stadt, aber auch Stadtnatur, Häuser und Straßen, die unser Leben selbst dann mitbestimmen, wenn wir aus einem kleinen Dorf kommen. Emmas Themenwelt ist breit, kaum überschaubar, es scheint das Thema Fantasy herauszustechen, aber halt! „Our house in the middle of the street“, das ist nicht Fantasy, das ist Spielerei, wildes Herumwerfen von Realitätsbruchstücken, das ist “Madness”. So ist Emmas Schreiben. So sind ihre Figuren, ihre Themen, alltägliche Probleme neben großen Aufgaben, kleinste Natur neben der ganzen Welt. Ein besonderes Kapitel nehmen die Texte ein, die in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück entstanden sind. Sie sind besonders einfühlsam und sanft gegenüber den Opfern; da ist Emma nun wieder überhaupt nicht anders als ganz viele Jugendliche, die ich kennengelernt habe, politisch interessiert und aufmerksam gegenüber den massiven extremistischen Fehlentwicklungen, die in bei uns vorkommen. Vielleicht kann Emma es nur einfach besser in Worte fassen als viele andere; hören wir ihr also hier genau zu!
Emma kann überall schreiben, sie braucht nicht die von ihr so geliebte Schreibwerkstattsatmosphäre dazu, sie kann auch zu Hause schreiben, in der Schülerakademie, die sie besucht hat (nur die Pandemie hat sie davon abgehalten, den Rekord mit vier Teilnahmen aufzustellen), und auch in anderen Räumen der Schule, selbst wenn es gerade nicht wirklich leise ist. Mitunter schreibt sie auf Englisch, was durch viele Filme ihre zweite Muttersprache geworden ist, und auch durch die Musik; es gibt keine Band, die sie nicht einordnen kann: you name it, she knows it! Ihre Texte wirken nicht selten wie entliehen aus der Musik, bildhaft, ohne konkret zu werden, fließend, stockend, weitertreibend, manchmal aufbrausend, mit Leitmotiven und viel Spannung. Und dann wieder sind ihre Texte, nicht nur die Aphorismen, nur eben hingeworfen, einzelne Punkte, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang ergeben, man muss zurücktreten, sie eine Weile wirken lassen. Ja, Emma malt auch. Wie viele gute Autoren und Autorinnen hat sie kreative Mehrfachbegabungen, die sich in ihren Texten treffen und einen einzigartigen Stil ergeben. Einen anderen eben.
In diesem Band sind Texte zusammengekommen, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren entstanden sind. In diesen Jahren hat sich Emmas Stil gewandelt und ist irgendwie doch derselbe geblieben. Ich kann nicht erkennen, wie alt eine Geschichte ist, jedenfalls nicht am Stil; bei manchen kenne ich den Hintergrund beziehungsweise auch den Ort, wo sie entstanden ist. Aber das ist gar nicht notwendig, um sich von Emmas leichter und doch so eindringlicher Erzählweise mitnehmen zu lassen. Man muss sich Pausen nehmen, um die Texte zu erfassen; Emmas Texte brauchen Zeit, aber das sind sie wert. Sie sind anders, wie ihre Autorin. Hören wir ihr also wirklich zu.