Paulus Götting - Mahn mal, Mahnmal (geschrieben in der Gedenkstätte Ravensbrück)

Mahn mal, Mahnmal
Paulus Götting

Ich sehe die Statue schon von Weitem, im ersten Moment berührt sie mich nicht, ich bin noch weit weg und es sieht auf den ersten Blick so aus, als würde die eine Person die andere Huckepack tragen, komisches Denkmal ...
Sieben Pömpel im Boden sperren den weiteren Weg zum Mahnmal für Autos. Ich komme zum dritten Mal an der riesigen Gedenktafel vorbei, lese den Spruch zum fünften Mal, während ich dies schreibe, zum sechsten. Ich schreite weiter geradeaus auf zwei Frauen aus dunklem Metall zu, die eine hat eine Kapuze auf, die andere nicht, ich erkenne darin kein Muster oder eine Logik. Es gibt keinerlei Schild zu ihnen, das ihnen eine bestimmte Rolle oder Thematik zuweist. Während ich so direkt vor ihnen stehe, erschrecken sie mich, machen mir geradezu Angst. Sie sind furchteinflößend, Furcht vor dem Leid, das ihnen widerfahren ist, und gleichzeitig Furcht davor, sie könnten jeden Moment aus ihrer Starre erwachen, um an mir, der ich mich dieser Stätte so leichtfertig genähert habe, all ihre Wut, Frust und Angst auszulassen. Doch sie stehen nur da, als stumme Ankläger, um mein Gewissen zu attackieren ...
Als ich mich losreißen kann, setze ich meinen Weg an der stacheldrahtgekrönten Mauer entlang fort: Albanien, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Sowjetunion, Spanien, Tschechoslowakei, Ungarn. Jedes Land hat einen steinernen Vorsprung, jeder ist mit einem Draht umwickelt, auf ihnen liegen Steine, Blumen, Kränze, Bänder, Flaggen und Lichter.
 – Was ging nur damals in den Menschen vor, die auf solche Ideen kamen, die so etwas zuließen, ja, sich sogar daran beteiligten? Lässt sich danach überhaupt noch Frieden finden? –
 – Aber sind wir denn so viel besser? Lassen wir nicht auch ganz schön viel zu und sind irgendwie Teil des Ganzen? –
Ich bin nun nah genug am Denkmal: Eine offensichtlich noch kräftige Frau trägt eine dürre, schwach aussehende andere Frau, deren Glieder auch nur noch schlaff herunterhängen, auf ihren Armen, sie blickt auf den See. Ich habe noch kein Schild gelesen, soll dies also eine Szene aus der Situation der Befreiung dieser Frauen sein, und eine Insassin trägt ihre Mitgefangene, die zu schwach zum Laufen ist, hinaus in die Freiheit? Oder aber handelt es sich um eine Aufseherin, die eine Insassin, die aufgrund harter Arbeit und schlechter Ernährung verstarb, zum See trägt, um ihre Leiche dort zu „entsorgen“? Ich bin nicht sicher, welche Version ein besseres Mahnmal abgäbe ...
Vorbei an dem Rosenbeet gehe ich weiter auf eine Art riesiges Podest zu. Ich erklimme die Stufen, mittig ist ein Stein rednerpultmäßig hervorgehoben. Während ich hier so stehe, blicke ich auf die ehemalige KZ-Anlage, links von mir das Denkmal vor dem See, rechts alles andere, und ich habe das Gefühl, eine Rede halten zu müssen. Eine Rede für alle, die hier gelitten haben und umgekommen sind, und eine Rede für alle, die das jetzt gera-de anderswo tun. Und sie scheinen eine Rechtfertigung zu verlangen, wie ich mein Leben so leben kann?
Doch ich weiß nur eine Erklärung: Ignorieren, verdrän-gen, vergessen ...
Vielleicht kann das alles hier uns ja ein wenig davon ab-halten ...

Geschrieben im Eingangsbereich der Gedenkstätte Ravensbrück