Premiere Pfade im Revier - Pfade ins Revier (Gedicht Julia Iwaschenko und Rede Artur Nickel zur Eröfnung der Veranstaltung)

Zur Premiere der neuen Essener Anthologie Pfade ins Revier – Pfade im Revier am 18.11.2008 in der Volkshochschule Essen am Burgplatz

 mein weg

mein weg ist eine treppe
bis zur sonne
ich werde zielstrebig
zu diesem ziel gehen
etwas überirdisches
gleich einem regenbogen
füllt mein leben
mit verschiedenen farben
manchmal sind sie
dunkler als die nacht
und manchmal sind sie
ganz hell
sie vermischen sich
und haben dabei
die macht
mich zu ändern
ich habe mir
meine welt ausgedacht
die in mir lebt
gehend verteile ich
meine gefühle
gedanken und kenntnisse
die sich in dieser welt
sammeln
an die menschen
die mir wichtig sind
und an die
die in meinem leben
eine rolle spielen
diese menschen
geben mir
ein zuhause wo immer
freie plätze sind
da fühle ich mich
sicher
dies gibt mir kraft
weiterzugehen
ich habe meinen weg
gefunden
und auf diesem weg
 will ich
etwas neues in mir
finden

Julia Iwaschenko ( 18 Jahre )

 

 

Einführung  

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Kleine-Möllhoff,
sehr geehrter Herr Scharnhorst (Essener Lesebündnis),
lieber Johannes Brackmann (Kulturzentrum „Grend“, Essen),
liebe Jungautorinnen und – autoren,
liebe Eltern, Freunde, Verwandte und Lehrer unserer Kinder und Jugendlichen,

Diese Menschen geben mir ein Zuhause, wo immer freie Plätze sind. Da fühle ich mich sicher. Dies gibt mir Kraft weiterzugehen.

So klingt es nach, so haben wir es gerade von Julia Iwaschenko gehört. Es sind Verse, die anzeigen, worum es in dieser neuen Essener Anthologie „Pfade ins Revier – Pfade im Revier“ geht. Darum, wie junge Menschen ins Ruhrgebiet gekommen sind und welche Wege sie hier gehen. Ob sie hier einen freien Platz finden, ein Zuhause, wo sie sich sicher fühlen, ein Zuhause, das ihnen Kraft gibt, von da aus weiterzugehen. Aber nicht nur das. Es geht auch um ihre seelischen Wege und um ihre geistigen. Denn auch das ist gemeint: Wenn sich Kinder und Jugendliche seelisch sicher fühlen, wenn sie ein geistiges Zuhause haben, dann finden sie die notwendige Kraft ihren persönlichen Weg weiterzugehen. In Essen. Im Ruhrgebiet. Und weit darüber hinaus.  

Eine ganze Menge, was diese wenigen Verse von Julia Iwaschenko enthalten! Es ist das, was unsere Kinder und Jugendlichen umtreibt: Wie jeder von ihnen seinen richtigen Weg finden kann. Deswegen die Auseinandersetzung mit dem, woher sie kommen und wo sie gerade stehen. Der eigene Standpunkt, von dem aus man eine Richtung, die eigene Richtung, einschlagen kann. Und: wir als Erwachsene sind es, die eine Aufgabe haben, die Aufgabe, ihnen das Zuhause zu geben, das ihnen einen sicheren Halt bietet.

Genau da setzen die Texte unserer Jungautorinnen und Jungautoren an. Sie beschreiben, was war, was ist und was noch nicht ist. Sie berichten von den kleinen Pfaden und von den weiträumigen Autobahnen, die sie zu bewältigen haben. Sie berichten von Gratwanderungen, von Sackgassen, aber auch von Abstürzen. Von glücklichem Geschick, von Trauer, von Verzweiflung, wenn es nicht mehr weitergeht.

„Pfade ins Revier – Pfade im Revier“ ist also ein Buch, das mitten im Leben steht. Wie seine Vorgänger „Fremd und doch daheim!?“, „Dann kam ein neuer Morgen“ und „Heute ist Zeit für deine Träume“.

Problemfelder, die sich darin spiegeln - ich greife einiges heraus:

Stellen Sie sich vor, Sie brechen sich ein Bein. Drei Monate später fällt dies einem Bekannten auf, der Ihre Angehörigen anspricht. Weitere drei Monate später: der Arzttermin, bei dem definitiv festgestellt wird: Sie haben sich das Bein gebrochen. Die Therapie dafür beginnt aber trotzdem erst ein weiteres halbes Jahr später, weil vorher kein Bett frei ist. Sie merken schon: Das geht gar nicht. Zu diesem Zeitpunkt ist das Bein bereits schief zusammengewachsen, ein Schaden fürs Leben. So allerdings gehen wir als Erwachsene mit den gravierenden seelischen Problemen unserer Kinder und Jugendlichen um. Hier in Essen und überall in unserer Republik. Denn auf diese Probleme  trifft der Notfallparagraph, bei dem ein Jugendamt tätig werden muss, zumeist nicht zu.

Leider handelt es sich nicht um Einzelfälle, es ist ein grundsätzliches Problem. Das belegt eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums, die im Oktober 2007 erschienen ist. Sie besagt, dass 21,9 % aller Kinder und Jugendlichen psychisch auffällig ist. Welche Wege sind Jugendliche gegangen, haben sie gehen müssen, dass das passieren konnte? Wie kann dem begegnet werden? Was kann getan werden, damit diese Probleme gar nicht erst entstehen? Da sind wir alle gefragt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wo immer junge Menschen sind!

Weitere Problemfelder möchte ich nur benennen. Es gibt die Fragen der Integration, die sehr viel vielschichtiger sind, als man vielleicht annimmt: das Familienbild, das viele mitbringen; die sprachlichen Probleme; die jeweilige kulturelle Tradition. Das Problem der zunehmenden Zahl der Schulschwänzer. Die noch immer nicht gelösten Herausforderungen der internationalen Pisa-Studien und … und … und ….

Ein anderes Problemfeld, das mir zu schaffen macht: Gerade in den letzten Wochen sind allein vier Jugendliche zu mir gekommen, die von ihren Eltern nach ihrem 18. Geburtstag quasi vor die Tür gesetzt wurden. Sie hätten genug für sie getan, sie sollten jetzt selber für sch sorgen. Unsere Stadt hat da in allen Fällen unbürokratisch und schnell geholfen. Gott sei Dank! Aber was passiert seelisch in diesen jungen Menschen? Eltern sind nicht ersetzbar. Selbst da, wo Trennungen sein müssen. Wege ins Ruhrgebiet und Wege im Ruhrgebiet.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Verehrte Anwesende!

Julia Iwaschenko hat den Kern getroffen, worauf es ankommt. Sie erinnern sich?

Diese Menschen geben mir ein Zuhause. Da fühle ich mich sicher. Das gibt mir Kraft weiterzugehen.

Darauf kommt es an, unseren Kindern und Jugendlichen ein Zuhause zu geben, Sicherheit, Halt, Herzlichkeit. In der Schule, im Betrieb, in unseren Familien. Egal, woher sie kommen und wohin sie gehen. Davon hängt alles ab. Wer sich geborgen fühlt, kommt vorwärts, er kann gut lernen. Nehmen wir unsere Kinder und Jugendlichen in die Mitte, in unsere Mitte. In der Politik. In der Wirtschaft. Zu Hause in unseren Familien. Sprechen wir mit ihnen über das, was sie vorwärts bringt. Teilen wir mit ihnen das Positive und das noch nicht so Positive! Ziehen wir die notwendigen Konsequenzen mit ihnen und für sie. Es ist allerhöchste Zeit. Sie haben alle  unsere Herzlichkeit verdient! Ohne Ausnahme!

Liebe Autorinnen und Autoren:

Ich möchte euch danken für das, was ihr geschrieben habt. Es ist ein interessantes und aufschlussreiches Buch daraus geworden. Ich habe viel von euch gelernt. Ich wünsche euch, dass euer Buch viele Leser findet und dass sich eure Leser zu Herzen nehmen, um was es euch geht!   

artur nickel

Essen, den 18.11.2008