Presse schreibt über Lesung von Nicoleta Craita Ten'o in der Kirchengemeinde Rekum

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Die schweigende Autorin
Nicoleta Craita Ten'o, die seit 20 Jahren nicht spricht, stellt ihr neues Buch in der Rekumer Kirche vor

Rekum. Eine Lesung findet statt, ohne dass die Autorin liest. Denn Nicoleta Craita Ten‘o spricht seit 20 Jahren nicht mehr. Deshalb trägt ihr Verleger Alfred Büngen, Gründer des Geest Verlags, Passagen aus ihrem neuesten Roman „Die Naht des Silberschuhs“ in der Rekumer Kirche vor, in die zahlreiche Erwachsene und auch Jugendliche gekommen waren.

„Es ist eine Weltpremiere“, sagt Alfred Büngen, „denn heute wird zum ersten Mal öffentlich aus dem neuen Buch der Autorin gelesen.“ Doch bevor sie durch Büngens Stimme zu Wort kommt, trägt er ein Gedicht von Leon und Simon vor, Konfirmanden in der Rekumer Kirchengemeinde, die eine kleine Fantasie über den Titel des Romans von Nicoleta Craita Ten‘o literarisch durchgespielt haben. „Mich freuen solche Texte, geht doch der Anteil lesender und literarisch interessierter Jugendlicher immer weiter zurück“, sagt Alfred Büngen, der sich anschließend der Autorin widmet, die schweigend neben ihm sitzt und eine große Puppe fest im Arm hält.

Die in Farge wohnende Autorin kommt aus Rumänien, lebt schon seit 15 Jahren in Deutschland und hat bereits 14 Bücher geschrieben. Sie beherrscht sechs Sprachen und spielt Klavier, wobei sie die Kompositionen auswendig vorträgt. „Der Roman richtet sich an Jugendliche, aber auch an Erwachsene“, sagt Alfred Büngen, „und erzählt die Geschichte von zwei 15-jährigen Mädchen, die sich ineinander verlieben.“

Die beiden Romanfiguren könnten gegensätzlicher nicht sein: Während Rieke, von ihren Eltern zurückgelassen, hungernd und sich selbst an den Armen verletzend, ein verängstigtes und vereinsamtes Mädchen ist, das keine Freunde hat, zeigt Mireille ein frühlingshaftes Gemüt, genießt viele Kontakte und wirkt „wie ein Gemälde in goldenem Rahmen“.

In der Schule lernen sich die beiden kennen, und zunächst begegnet Rieke der Warmherzigkeit von Mireille mit störrischer Abwehr, bis Rieke aufzutauen beginnt und ihre neue Bekanntschaft in ihrem Zuhause besucht. Der Text von Nicoleta Craita Ten‘o zeichnet sich durch bewusst eingesetzte Kargheit aus und arbeitet mit behutsamen Andeutungen, wenn Rieke zum Beispiel „die Luft der anderen beim Ausatmen spürt“. Letztlich erzählt die Autorin die Geschichte von zwei verlorenen Mädchen, die sich finden, indem eine der anderen genau zuzuhören beginnt, und Mireille die verein­samte und seelisch zerstörte Rieke langsam aufbaut, die anfängt, wieder an sich selbst zu glauben.

Alfred Büngen schaltet eine bewusst ­lange Lesepause ein, in der das Publikum Gelegenheit hat, Fragen an die Autorin zu richten. Ihre Antworten schreibt sie auf die ­Folie eines Overheadprojektors. Die gertenschlanke Frau, die ihre Puppe nicht einen Moment loslässt, hat offensichtlich die Neugier des Publikums geweckt, denn die Fragen wollen kein Ende nehmen.

Sie sei so dünn, weil sie an einer grausamen Krankheit leide, seit 20 Jahren müsse sie Psychopharmaka nehmen, um sich stabil zu halten, notiert sie auf die Folie, und sie rede nicht, weil in ihrer Kindheit etwas passiert sei, was ihr die Sprache verschlagen habe. Was es war, bleibt auch an diesem Abend ein Geheimnis. Nur andeutungsweise gibt Verleger Alfred Büngen etwas preis: „Stellen Sie sich vor, nachts kommen Teufel und sagen zu ihr, sie ist nicht mehr.“ Doch auch wenn sie nicht mehr spricht – wobei Nicoleta Craita Ten‘o das Sprechen nicht vermisst – bleibt ihr doch die Schrift. Sie schreibe viele E-Mails, benutze das Internet, und manchmal schreibe sie auch Buchstaben mit dem Finger in die Handfläche. „Die Sprache ist ein Schatz, ich mag es, sie zum Klingen zu bringen“, notiert sie für die Gäste.

Und natürlich kommt die Frage auf, was es mit der Puppe in den Armen auf sich habe: „Sie ist meine Seele, meine Freundin, ich fühle mich durch sie selbst geliebt“, antwortet Nicoleta Craita Ten‘o schriftlich. Seit 20 Jahren sei die Puppe ihre ständige Begleiterin. Doch zu ihrem Leben gehört auch eine Katze, die im Februar 20 Jahre alt wird, „und die älteste Katze Bremens ist“, weiß ihr Verleger.

Ob sie gern die Zeit zurückdrehen ­würde? „Ja, ich wäre gern ein fünf Jahre altes Kind“, notiert Nicoleta Craita Ten‘o, die zugibt, dass sie keine menschlichen Freunde hat. Und ob sie manchmal traurig sei? Nein, dazu sei das Leben viel zu kurz. In der kurzen Schlusspassage, die Alfred Büngen aus ihrem Roman liest, sind sich die beiden Mädchen ­Rieke und Mireille auch körperlich nah, spüren den Aprikosenduft der Haut, und ihre Lippen berühren sich leise.

"Ich mag es,

Sprache zum Klingen

zu bringen."

Nicoleta Craita Ten'o

Die schweigende Autorin

Die Norddeutsche am 31.01.2018