Radio Oeins wiederholt Sendung mit Lesung von Reinhard Rakows 'Familienausstellung' am heutigen Donnerstag, dem 08.04. um 18.00 Uhr



Radio Oeins wiederholt die Sendung zur "Familienausstellung" übermorgen um 18:00 Uhr. (Zuerst Nachrichten, dann 55 Minuten Lesungen von Auszügen aus allen vier Geschichten. Elisabeth Buschermöhle liest aus der Titelgeschichte, ich übernehme die übrigen Erzählungen).

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Dämon und Zauberer
Nachwort zu Reinhard Rakows Erzählband „Familienausstellung“
von Helga Bürster

Nach der Lektüre von Reinhard Rakows hier vor-liegendem Erzählband kommt mir eine recht merkwürdige Assoziation in den Sinn. Es ist eine Szene aus einem, nun ja, Fantasyfilm, ein Genre, mit dem dieses Werk absolut nichts gemein hat. Warum dann ein solcher Gedanke? Die Assoziation hält sich jedoch, ist geradezu hartnäckig. Also greife ich das Bild auf. Vielleicht ist doch etwas daran? In der Filmsequenz kämpft ein alter Zau-berer gegen einen noch älteren Dämon. Der Kampf führt die beiden durch das tiefste Höllenfeuer bis hinauf auf einen eisigen Berggipfel. Der Dämon ist besiegt, der Zauberer tot, aber er kommt, gleich¬sam kathartisch geläutert, wieder zu sich.  
Was, zum Teufel, hat dies nun mit den Rakowschen Erzählungen zu tun? Vordergründig gibt es Analo-gien und auch wieder nicht. Männer kämpfen gegen Frauen, die mehr oder weniger dämonenhaft daherkommen. Sie sind die Stärkeren. Am Ende triumphieren sie oder überleben schlicht und machen weiter, wie die Bauersfrau aus „Dass alles so rein bleibt“. Die Männer sind zum Scheitern verurteilt. Sie enden nicht geläutert auf einem Berggipfel. Sie hinken im Gegenteil einem über¬kommenen Selbstverständnis hinterher, werden krank oder sterben. Sie kämpfen gegen das Altwerden, gegen den Verlust von Ansehen und Stellung, von Attraktivität und Sexualität, gegen Sucht, Krankheit und Einsamkeit. Am Ende sind sie meist entlarvt, denn die Frauen kennen keine Gnade. Sie sinnen wie griechische Göttinnen auf Rache. Sie sind es, die nach langem Kampfe allein auf dem Gipfel in Schnee und Eis erwachen, aber sind sie geläutert? In Hinsicht auf die Protagonisten hinkt meine Assoziation gewaltig.

Es ist wohl eher die Rakowsche Sprache, die diesen Vergleich in mir hervorruft. Nach über fünfhundert Seiten hallt sie in mir nach wie eine tiefe Glocke. Diese Sprache ist gewaltig, mächtig und wandelbar. Sie trifft den Ton einer Bäuerin ebenso präzise wie den einer Künstlerin, den eines drogenabhängigen jungen Mannes und den eines malenden Rentners, der weiß, dass er bald sterben wird. Dabei gelingt Rakow das Kunststück, in keinem Satz und keinem Wort anbiedernd zu wirken. Selbst die schlichtesten Stimmen haben etwas Erhabenes an sich.  
Rakow macht es dem Leser/der Leserin bei alledem nicht einfach. Aber wann hat gute Literatur das jemals versprochen? Man möchte sich für diese Zumutung bedanken. Auf den Gipfeln der Rakowschen Prosa hageln uns die Bilder und Worte nur so um Augen und Ohren. Sie tun weh, sind scharf und klar wie Eiskristalle. Und dann blitzt plötzlich eine Zärtlichkeit hervor, die das Herz für einen Moment erwärmt und ein Licht leuchten lässt: „… wie sehr er noch am Leben hing, und er fand, so lange er auch grübelte über den Grund seiner Uneinsichtigkeit nichts, außer dass noch zu viel Liebe sei in ihm“ (Nägelschläge).
Dann sind da diese stakkatohaften Reihungen, die Worte, Sätze, Fragmente prasseln hernieder, atemlos, wie ein Bernhardsches Inferno. Keine Gnade, kein Ausruhen, da muss man durch wie der Zauberer durch die Hölle. Die Bilder sind zwingend und sie stürzen über uns zusammen. An manchen Stellen möchte man das Buch zuschlagen und weglaufen, aber die Worte entwickeln einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Der Schriftsteller entlässt uns erst, wenn die Welt in Scherben liegt, erst, wenn die Hölle durchschritten wurde. Erst dann, aber immerhin dann ist es uns möglich, erleichtert die frische Luft zu atmen, denn die Helden und Heldinnen sind uns trotz allem nicht auf die Pelle gerückt. Wir bleiben verschont, durften ihnen fernbleiben. Und haben dabei das Privileg, alles in Ruhe Revue passieren lassen, es nachvollziehen zu können und es mit Glück zu verstehen. Das ist wichtig, denn Verstehen und Erkennen sind der Keim der Überwindung, hin zu einem möglichen Besseren. (Also zur katharti-schen Läuterung – eben doch, siehe oben.) Dieser Dialektik der Handlung entspricht, dass bei aller Emphase des Tons immer das analytische Kalkül obwaltet. So packend und überzeugend die Figuren modelliert sind, so distanziert verfährt Rakow mit ihnen. Im unterkühlten Duktus Brecht‘scher Manier zeigt er uns seine Protagonisten wie hinter einer Glasscheibe, und wir sehen ihnen zu dabei, wie sie sich (und/ oder andere) bis aufs Blut quälen. Ist Mitleid erlaubt? Hätten sie es verdient? Falls ja: Wer von ihnen? Die Texte fordern die Antwort ein; sich darum herum zu drücken, wird dem Leser/ der Leserin nicht möglich sein.
Vier Erzählungen vereint Reinhard Rakow in diesem Band. In den beiden ersten stehen Frauen im Zentrum, Männer in den beiden letzten. Für alle vier ist die Familie, diese, wie Rakow in „VaterMutterHundesohn“ fast höhnisch zitiert,  „Keimzelle des Staates“, konstitutiv. Der Titel der ersten, dem Band seinen Namen gebenden Erzählung „Familienausstellung“ ist wörtlich zu nehmen, denn die Heldin stellt ihre „Familie“ tatsächlich aus. Es folgen in „Dass alles so rein bleibt“ die bei aller Tragik nach herkömmlichen Maßstäben wohl heilste Familie, während die Erzählungen „VaterMutterHundesohn“ und „Nägelschläge“, Letztere von Ausgestaltung und Umfang eigentlich schon ein Roman, ihre Handlungen auf dem Humus geschiedener Ehen und sonstwie gescheiterter Beziehungen entfalten. Kein Text übrigens, bei dem Rakow die gesell-schaftliche Realität seiner Personage außer Acht ließe. Die Bedingungen, unter denen Bauersfrau und Rentner, junger Mann und hoffnungsfrohes Ehepaar letztendlich versagen, haben meist auch sehr konkrete wirtschaftliche Faktoren. Rakow skizziert sie ebenso schonungslos und treffend wie seine Psychogramme.
„Familienausstellung“ ist eine Novelle, deren Rahmenhandlung fein erdacht und konstruiert ist. Das novellentypisch „Unerhörte“ ergibt sich hier aus der zerstörerischen Beziehung zwischen einem alternden Komponisten und einer jungen Künstlerin. Er fordert ein Kind von ihr, was nicht klappen will. Die Liebe, falls jemals vorhanden, zerbricht. „Wir eigneten uns als Anschauungs-exemplare fürs krachende Scheitern“, befindet die Frau im Nachhinein. Da ist das Krachen schon längst allgegenwärtig, und sie ist es, die es instrumentiert.
„Dass alles so rein bleibt“ handelt von einer Bauernfamilie. Es steht nicht gut um den Hof, die Frau kämpft. Sie will vernünftig sein und den Hof retten, nimmt das Heft in die Hand und in Kauf, sich über jedes Menetekel an der Wand hinwegzu-setzen. Mit der Umstellung auf Putenzucht schei-tert sie, ebenso wie schon vorher der Mann mit der traditionellen Milchviehwirtschaft. Er und die Söhne lassen sie gewähren, zu uninteressiert, zu schwach, sie zu stoppen. Der Abgrund, dem sie zustrebt, ist Ausfluss ihrer Stärke.
Rakows starken Frauen folgen schwache Männ-chen. „VaterMutterHundesohn“ erzählt die Geschichte eines jungen, hochbegabten Mannes, sensibel und lebensuntüchtig. Eingebettet in eine die Generationen durchziehende Geschichte von Süchten, zeichnet der Text nach, wie auch der Held drogensüchtig wird. Weder Vater noch Mutter noch sonstwer kann ihn retten. Sprachlich entführt der Text dieser „dysfonischen Dichtung“ in eine rasante Achterbahnfahrt, die, bereits ihr Anfang verhieß es, im Untergang endet.  
An letzter Stelle steht der komplex angelegte Text „Nägelschläge“. Er verhandelt das Scheitern eines alternden Mannes, neben der Familienthematik eines der großen Themen dieses Buchs, und verweist zurück auf die erste Erzählung, auf das Schicksal von Ich-Erzähler und von Anti-Held der „Familienausstellung“. So schließt sich der Bogen eines außergewöhnlichen Erzählbandes. „Nägelschläge“ fängt an mit dem großartigen Satz: „Am Tag, als Eckhards Sprache starb, gaben sie Schubert zum Abend.“ Ein erster Satz, der in die Literaturgeschichte eingehen sollte. Der raffiniert gesponnene Plot kreist und windet sich um Schubert, den Todverliebten, um Sehnsucht nach Gelingen, nach Einssein.  

Und über allem ist da dieses Ringen um Leben, um Liebe, um Bedeutung, um Klarheit – der Kampf mit dem alten Dämon eben, das alles in eine Sprache gegossen, die zum Sterben schön ist und eines Zauberers würdig.
Helga Bürster

Helga Bürster, Jahrgang 1961, lebt mit ihrer Familie auf dem Land zwischen Oldenburg und Bremen. Sie studierte Theaterwissenschaft, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig und arbeitet seit 1996 als freiberufliche Autorin. Sie schreibt Romane und Hörspiele. 2019 erschien „Luzies Erbe“ im Inselverlag.