Rede von Olaf Bröcker anlässlich der Buchpremiere von Svea Marie Sieve 'Gegrinst und sinverschlossen'

Hände. Kleine Hände, plumpe Hände, rote Hände, weiche
Hände, dreckige, zierliche, schlechtmanikürte Hände. Sie
waren überall. Um dich herum, vor deinem Gesicht, an dir.
Entweder sie begrapschten dich oder sie betatschten dich
oder sie klopften an dir herum und fuchtelten dann vor dir
her.
Diese ganzen Hände, jeden Tag, vor denen du dich nicht in
Sicherheit bringen konntest, obwohl sie dir sowieso nichts
Böses wollten. Du warst wohl einfach nicht handlich genug.

So ging es mir, als ich in den letzten Tagen versucht habe, diesen Text zu formulieren; versucht habe, Sveas Schreiben und ihre Ausdrucksform zu „begreifen“, in eigene Worte zu fassen. „Nicht handlich genug.“ Überhaupt nicht handlich! Sveas Texte verweigern sich einer allgemeinen Einordnung vollständig.
Svea ist unglaublich! Die knallt dir innerhalb von fünf Minuten einen wahnsinnigen Text hin und du bist einfach nur sprachlos!
Viel näher als diese Aussage von Iris Keller, jüngster Artist in Residence in Vechta, kommt man Sveas Schreiben kaum. Staunen, bis hin zur Verständnislosigkeit mitunter, zugegeben: Neid, und wenig mehr dazu. Sveas Bilder sind so kraftvoll (ich dachte bisher immer, das könne man nur von Filmen sagen) und ihr Ausdruck ist so originell, dass wenig übrigbleibt als Staunen. Und gleichzeitig sind die Formulierungen mitunter von einer unglaublichen Einfachheit:
Ich baue mir ein Haus und ziehe in die Garage. Wenn des Tor
lange genug offen steht, könnte es sogar wärmlich werden
hier drin, ist kuschelig.
Mein Haus, es hat Erker und schnörkelige Tapeten und es
birgt so vieles in sich. All der Krempel, der nicht passte,
musste in die Garage.

Wie der Erzähler auch, auch der musste in die Garage. Passte also auch nicht. Viele Texte könnten, sollten den Weg in Schulbücher finden, sie eignen sich, wenn die Anmerkung als Deutschlehrer gestattet ist, hervorragend zur Aufschlüsselung von Bildern, zur Analyse von semantischen und persönlichen Beziehungen.
Für den Text, dessen Beginn ich eben zitiert habe, hat Svea den ersten Vechtaer Jugendliteraturpreis bekommen; im Vorjahr hatte sie bereits den Preis für Jungautorinnen und -autoren der Berner Bücherwochen erhalten.
Ich habe bisher erst einen Preis für mein Schreiben bekommen (einen zweiten Preis); die Urkunde hängt in meinem Wohnzimmer (neben der für den Goldenen Anton, auf den ich noch ein wenig stolzer bin). Wahrscheinlich wird es der erste und letzte Preis sein, den ich erhalte. Bei Svea ist das hoffentlich nicht der Fall; das würde auch zeigen, dass sie weiterschreibt; es gibt sehr wohl ein Schreiben nach der Schreibwerkstatt!
Ein Traum, ja, es war dein Traum und er würde es für immer
bleiben. Denn selbst in den Nächten, in denen es regnete,
waren die Stimmen ganz weit weg. Sie waren da, aber sie waren
weit entfernt.

In ihrer distanzierten Dunkelheit flüstern sie: „Sie lebt in einer
Traumwelt, man kann ihr nicht mehr helfen.“ Oder
manchmal auch: „Es wird das Beste sein, sie für ihre restlichen
Tage ruhigzustellen.“

Oh nein, das wäre nicht das Beste! Das ist zu einfach, Jugendliche, erst recht, aber nicht nur solche mit einem Talent wie dem von Svea, ruhigzustellen! Sie haben etwas zu sagen, mir, Ihnen, uns! Wir müssen ihnen nur zuhören – und, zugegebenermaßen, etwa bei Svea, auch ein wenig darüber nachdenken. Wir erkennen aber nicht nur die Jugendlichen und ihre Welt wieder. Wir erkennen immer auch uns. Der Anglist Hans-Dieter Gelfert nennt das den „Resonanzraum von Literatur“. Drüber nachdenken müssen wir aber! Und dann lernen wir vielleicht auch feine Unterschiede im Schreiben kennen.
Müde des Schreibens ohne zu produzieren schmiss sie klischeehaft
ihren Stift in die letzte Ecke ihrer Gedanken und
setzte vor dem Spiegel eine trotzige Miene auf, um so Aufmerksamkeit
von der einzigen Person zu bekommen, deren
Meinung ihr egal war.

Schreiben ohne zu produzieren! Sie wissen, was ich meine. Und über die Tatsache, dass die Erzählerin sich vor den Spiegel setzt, weil es ihr egal ist, dürfen Sie mal nachdenken. Ich sagte ja: beste Übungstexte für den Deutschunterricht!
Habe ich mich Sveas Schreiben doch annähern können? Auch mir kommt ab und zu in ihren Texten etwas bekannt vor, irgendwo docken meine Gedanken und Gefühle an. Oder sind es nur meine Erinnerungen? Man wird halt alt!
Ich packe meinen Koffer und ich packe ein:
einen Haufen Schokolade, wenn mal das Mittagessen
ausfällt.

Was ich sonst so mit mir herumschleppe, unterscheidet sich von dem, was Svea eingepackt hat (High-Heels stehen mir sowieso nicht), aber schwer ist mein Koffer auch – wie unser aller Koffer! Aber dieses Mitbringsel kommt mir arg bekannt vor! Habe ich also doch etwas im Buch gefunden, was ich sofort unterstreichen kann. Fein, dass Svea das bietet! Und sehr gut, dass sie bei folgendem Satz in der zweiten Person formuliert und nicht in der ersten – wäre sonst auch nur Fake:
Dein Schweigen ist Fakegold, denn du
traust dich nicht, dir das Silber von der
Seele zu reden.