Reinhard Rakow - 1700 Jahre Judentum in Deutschland

(Abschlussworte bei der Gedenkveranstaltung am 9.11. in der Oberschule Berne)

1700 Jahre

Wenn wir heute an die Judenprogrome von 1938 und gleichzeitig an 1700 Jahre Judentum in Deutschland erinnern, so ist das kein Zufall. Vor 1700 Jahren, im Jahre 321, erließ der römische Kaiser Konstantin ein Gesetz, das allen Stadträten der Nordprovinzen erlaubte, Juden aufzunehmen. Dieses Gesetz gilt als der erste Beleg dafür, dass spätestens zu jener Zeit Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschland lebten.

Deutschland war damals, wie schon Jahrhunderte vorher das Gebiet Judäa, die Heimat der Juden, Bestandteil des römischen Weltreichs, eine römische Provinz unter vielen. Anfangs hatte Rom keine bzw. eine tolerante Staatsreligion; den römischen Herrschern war es egal, ob und an wen ihre Untertanen glaubten, Hauptsache, sie zahlten ordentlich Steuern. Erst drei- bis vierhundert Jahre später, unter Kaiser Konstantin, wurde das Christentum als Staatsreligion des römischen Reichs eingeführt. Damit begann nicht nur die Abgrenzung gegen das Judentum, sondern auch die Ausgrenzung aller Juden und nach und nach auch ihre Verfolgung, Vertreibung und Ermordung. Der Hass auf die Juden war eine Erfindung der Christen; diese christliche Erfindung hat den späteren Judenprogromen der Nazis den Weg bereitet.

Wie konnte es dazu kommen? Wenn wir heute einen katholischen oder evangelischen Gottesdienst besuchen und Lesungen aus dem Alten Testament hören, wenn wir Worten Abrahams lauschen oder Sätzen von Moses, dann machen wir uns nur in den seltensten Fällen bewusst, dass wir jüdische Texte hören. Texte, die von Juden geschrieben wurden und die von Juden handeln. Das gesamte Personal „unseres" Alten Testaments ist jüdisch. Und auch die Hauptfigur des sogenannten „Neuen" Testaments, Jesus, war Jude. Die historische Person Jesus war ein jüdischer Wanderrabbiner, der Liebe und Frieden predigte, immer nur das Gute wollte, und der sich darüber mit dem einen oder anderen jüdischen Gelehrten, Hohepriestern usw. anlegte. Zu keiner Zeit wollte Jesus eine neue Religion gründen; es ging ihm um die Auslegung des jüdischen Glaubens, und er ist, als er gekreuzigt wurde, als Jude gestorben. Daran, dass tatsächlich jüdische Mitbürger ihn gekreuzigt haben, hat die neuere Geschichtswissenschaft übrigens erhebliche Zweifel, denn, wie gesagt, Judäa war damals römische Provinz, und nur der römischen Besatzungsmacht stand es zu, Todesurteile zu vollstrecken. Historisch wahrscheinlicher ist, dass römische Soldaten es waren, die Jesus umbrachten.

Fest steht jedenfalls zweierlei: Erstens: Jesus ist als Jude geboren und als Jude gestorben. Zweitens: Erst mehrere hundert Jahre nach seinem Tode kamen römische Glaubensgelehrte bei ihrem Versuch, das Christentum vom Judentum abzugrenzen, auf die Idee, die Juden als „Christusmörder", ja als „Gottesmörder" zu beschimpfen. Solcherlei Abgrenzung schien ihnen nötig zu sein, weil sie ganz genau um die Herkunft ihrer christlichen Religion aus der jüdischen Religion, der Mutterreligion, wussten, weil sie die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten erkannten und deshalb vermeiden wollten, dass ihre Gefolgsleute vom christlichen Glauben abfielen. Das ganze Christentum basierte doch auf dem Judentum, auf den gemeinsamen Zehn Geboten, auf dem gemeinsamen Alten Testament, der jüdischen Tora, auf dem gemeinsamen, auf ein- und demselben Gott. Um sich vom Judentum abzugrenzen, hatte man ja nicht eben viel vorzuweisen: Jesus als Leitfigur, einen Juden, aha, dazu den Heiligen Geist, naja, und obendrauf Maria und Josef, ein auch nicht wirklich überzeugendes Alleinstellungsmerkmal. Da war die Fama vom Gottesmord hochwillkommen zu Unterscheidung und Abwendung. Das diffamierende Gerücht, die Lüge vom Volk der Gottesmörder, fiel in allen christlichen Staaten Europas, von Russland bis Spanien, von Italien bis Deutschland, auf fruchtbaren Boden.

Über die Jahrhunderte, befeuert zunächst von römischen Päpsten, später von dem Judenfresser Martin Luther, wurde die Missachtung der Juden an die kommenden Generationen weitergegeben -- die Juden, dieses Mördervolk, die Juden, diese Brunnenvergifter, die Juden, die Kinder- und Jungfrauenblut saugen, die Juden, die Wucherzins nehmen, die Juden, die so hinterhältig sind, roh, gemein, die, denen man alles Schlechte zutrauen kann, die für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich sind, die Juden, die Juden! Und dabei war die einzige „Schuld", die diese Juden auf sich geladen hatten, dass sie sich nicht davon abbringen lassen wollten, dass es nur den einen, den einzigen, alleinigen Gott gebe, und dass sie weder Jesus noch den Heiligen Geist noch Maria und Joseph bräuchten, die einzige Schuld: Dass sie sich der christlichen Mehrheit nicht beugen, sich ihr nicht ergeben, dass sie Juden bleiben wollten.

So geht das, seitdem es Christen gibt, und die Nazis haben auf diesem Nährboden ihren Rassenwahn groß werden lassen können, bis sie sich sicher genug fühlten, schließlich die „Endlösung" der „Judenfrage" wagen zu dürfen: gezielte, kühl kalkulierte Verbrechen an den Juden, erst ihre systematische Ausbeutung und Ausraubung bis aufs letzte Haus, die letzte Perlenkette, das letzte Hemd, den letzten Goldzahn, dann ihre Ermordung, ihre fabrikmäßige Ermordung im Gas der Nazi-Lager, Verbrechen, wie die Welt sie zuvor noch nie gekannt hatte, Verbrechen gegen Menschen, gegen die Menschlichkeit, die es nie wieder geben darf.

1700 Jahre Judentum in Deutschland, das heißt auch 1700 Jahre Judenverfolgung, und wenn wir das eine erinnern, dürfen wir das andere nie vergessen. Während die einen, die christlichen Herrschermenschen, Geschichte schrieben mit ihren Eroberungskriegen, mit wirtschaftlichen, mit wissenschaftlichen Erfolgen, war die Geschichte der Juden bestimmt durch den Kampf ums nackte Überleben, um Duldung, um Schutz vor Übergriffen. „Wir Juden", sagte die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar, „Wir Juden sind geworden durch den Galgen und das Rad, durch Folter und Auslöschung". Dieses Trauma, das Trauma, immer wieder geknechtet und gepeinigt worden zu sein, bestimmt jüdisches Selbstverständnis bis heute, und es ist höchste Zeit, das nachhaltig zu ändern. 1700 Jahre haben Christen die Juden verfolgt. Lasst uns weiter daran arbeiten, dass man den Juden nun wenigstens für die nächsten 1700 Jahre mit Respekt begegnet und mit Wärme und Freundlichkeit.