Renate Kindel - Das Glasperlenspiel (Literatur in schwierigen Zeiten)

Renate Kindel (Darmstadt)
Das Glasperlenspiel

Egon der Pantomime im Glashaus
taubstumm verliebte sich in Marie
seine Hände am Glas
hörten den Klang ihrer Stimme
Glasperlen tropften bei seinem Spiel
und das Glashaus vibrierte bis die
Melodie von Schläfe zu Schläfe pochte

Marie im Tanz der Melodie lag sein
Leben ein Fächer vor ihr ausgebreitet
manchmal in wilden Wirbelstürmen
die ihren Körper schüttelten
manchmal das Murmeln eines Baches
dem sie nachlauschte und Töne
zauberten ihr ein Lächeln ins Gesicht

wie unter einer Glasglocke hockend
spielte Egon Geige an Wange wiegend
seine Kindheit: eine frech-quirlige
lauthals-lachende mit dem Fuß vor Wut
aufstampfende Melodie und oben vom
Glasdach perlten grün-gelbe rot-blaue
Murmeln kullerten zu Maries Füßen

die Jugendmelodie Egon frei stehend:
der Bogen über Abgründe Saiten platzten
zitternde Risse von den Wänden prasselten
Glasperlen Marie sammelte sie im Beutel
Egon trat tastend aus offenen Wänden
hielt galant Maries Hand und es war als
ob sie schon immer ein Paar gewesen

Egon spielte Straßenmusik es kam
ihr Sohn zur Welt und Marie legte ihn
wie in eine Wiege in den Geigenkasten
an Egons Seite in den Pausen erzählte er
Geschichten vom Glashaus jedes Kind durfte
eine Glasperle nehmen für das Murmelspiel vom
Sohn es waren immer wieder neue Kugeln im Beutel


aus der Anthologie: Es hört sich an wie eine Melodie. Siegerbeiträge und ausgewählte Teilnehmerbeiträge des 2. b.bobs 59 - Literaturwettbewerbs für Menschen mit Behinderung