Romanschreiben statt Unterricht - Presse berichtet ausführlich über das Afrika-Flucht-Projekt mit der Berner Oberschule

Neuntklässler der Oberschule Berne arbeiten an einem Buchprojekt zum Thema Flucht
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Romanschreiben statt Unterricht

22.10.2016 0 Kommentare
Buchprojekt © Georg Jauken
Berner Schüler schreiben für ein Projekt zu den Bücherwochen 2017. Ein Buch von Schülern der neunten Klassen der Oberschule wird im Geest-Verlag erscheinen. (Georg Jauken)

Amaru Okoye, der 18-jährige Seydou Coulibaly aus Mali oder auch die 15-jährige Noara Choukri aus Marokko. Ihre Namen stehen für typische Schicksale junger Menschen auf der Flucht. In Berne werden sie zu den Hauptfiguren in literarischen Texten. Im Vorfeld der sechsten Berner Bücherwochen im Herbst 2017 sind die Neuntklässler der Oberschule eingeladen, sich an einem Buchprojekt zum Thema Flucht zu beteiligen. Etwa zwei Drittel der Schüler hat sich auf die neue Erfahrung eingelassen. Während ihre Mitschüler dem Unterricht nach Lehrplan folgen, treffen sie sich in dieser Woche vormittags in der Kulturmühle zum Schreiben.

Es herrscht kreative Unordnung. Bis­weilen wird es laut. Dennoch sind alle konzentriert bei der Sache. Alfred Büngen vom Geest-Verlag in Vechta, der das Buch im kommenden Herbst herausbringen will, hat einige Informationen über typische Schicksale ­junger Menschen auf der Flucht und die ­Situation in den Herkunftsländern zusammengestellt. Zu zweit oder zu dritt ent­wickeln die Schüler dazu jeweils eine ­Geschichte, die von den Strapazen auf den langen Reisen, von gescheiterten und erfolgreichen Versuchen erzählen, das Mittelmeer zu überqueren, von Fluchthelfern, der Gefahr auf den Booten und allerlei Rückschlägen und Schwierigkeiten, das selbst gesteckte Ziel in Europa tatsächlich zu ­erreichen.

So schafft es der 16-jährige Dahlak aus Eritrea in einem von Paul und Lars verfassten Fluchttagebuch bis nach Kroatien, bevor er ausgeraubt wird. Wochenlang steckt er fest, hat nichts mehr zu essen und zu trinken. „Deutschland ist schon ganz nahe“, notieren die Schüler. Dahlak möchte Profifußballer werden, haben sie sich ausgedacht. Nach Monaten auf der Flucht ist ihrem Helden Dahlak nur der Ball geblieben, den er aus Eritrea mitgenommen hatte und ihm hilft, die Hoffnung auf ein gutes Ende nicht zu verlieren.

Lea, Emke und Amely haben sich eine ­Geschichte zu der 15-jährigen Noara aus Marokko überlegt. Nach vielen Schwierigkeiten ist die Jugendliche schließlich nach Paris gelangt. Noch am Abend ihrer Ankunft muss sie in einem Nachtclub arbeiten, um das Geld zu verdienen, das sie sich für ihre Flucht geliehen hatte. Obwohl ihre Familie all ihren Besitz verkauft hatte, reichte das Geld für die Überfahrt nach Europa nicht mehr aus.

Literatur ist für Alfred Büngen die Aus­einandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen durch fiktive Texte. „Ich will, dass die Literatur weitergeht“, antwortet er auf die Frage nach dem Grund für sein Engagement. „Mit einer Lesung erreicht man Jugendliche nicht.“ Regelmäßig führt er daher Schreibprojekte an Schulen durch, so wie jetzt in Berne oder auch 2015 in Brake, als er die Neuntklässler der Pestalozzi-Förderschule zusammen mit Achtklässlern des benachbarten Gymnasiums einen Roman über den Kampf für ein Jugendzentrum verfassen ließ. So wie dort wird die Handlung auch bei dem neuen Buchprojekt zum Thema Flucht anhand von Romanfiguren ent­wickelt, die allesamt junge Leute mit den typischen Sehnsüchten und Wünschen ihrer Generation sind. „Sie merken, dass ein Buch etwas Wichtiges sein kann“, lautet Alfred Büngens Erfahrung aus der Arbeit mit ­Jugendlichen. „Sie arbeiten eigenverantwortlich, wenn es um etwas geht, das sie betrifft.“

Das Konzept und die Herangehensweise, so scheint es, gehen auch diesmal auf. Konzentriert arbeiten die kleinen Gruppen an der nächsten Aufgabe. „Niemand von ihnen schreibt Briefe“, hat Büngen festgestellt. Nun schreiben sie alle an einem Brief über die Gefühle ihrer Romanfiguren auf der Flucht an die Lieben in der Heimat.

Später beim Vorlesen wird viel gelacht, aber auch aufmerksam zugehört. Die Schülerinnen Sedra Shaban und Rim Schallabi haben ihren Brief auf Arabisch verfasst und danach ins Deutsche übersetzt. Sedra liest ihn zuerst auf Arabisch vor. Rim scheint sich in der für sie noch neuen Sprache Deutsch noch etwas unsicher zu fühlen. In der ­Kulturmühle wird es mucksmäuschenstill, als sie leise mit dem Lesen beginnt. Der Brief handelt von der Sehnsucht nach dem ­zurückgebliebenen Freund und der Hoffnung, ihn eines Tages wiederzusehen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Büngen zeigt sich beeindruckt. Die Mitschüler applaudieren.

„Mit einer Lesung erreicht man Jugendliche nicht.“ Alfred Büngen, Verlagsmitarbeiter
„Sie arbeiten eigenverantwortlich, wenn es um etwas geht, das sie betrifft.“ Alfred Büngen, Verlagsmitarbeiter