Sag mir, wo die Spiele sind ... Ein Vorwort zum Buch: Heuerjunge Fiet. Ein Kinderleben in der Wesermarsch

Sag mir, wo die Spiele sind ...

Vorwort von Reinhard Rakow zum Buch

Heuerjunge Fiet

Ein Kinderleben in der Wesermarsch

Ein gemeinsames Projekt der Grundschule Ganspe

und der Comenius-Schule Berne

und des Geest-Verlags

im Rahmen der 5. Berner Bücherwochen

Geest-Verlag 2015

ISBN 978-3-86685-545-8
10 Euro



Ein "Smombie", also ein Smartphone-Zombie, hat nichts anderes im Kopf als sein i-Phone. Meist sind Smombies Jugendliche und Kinder, denen partout nichts anderes einfällt, als den ganzen Tag mit dem Phone zu daddeln.

Von einer Zeit, in der Kinder ihre Tage völlig anders verbrachten, erzählt dieses Buch. Es widmet sich dem Leben in den Fünfzigern, jener Zeit also, als der Krieg gerade vorbei war und Kinder noch ganz andere Sorgen hatten als auf das nächste Posting zu warten. Die damals jung waren, in die letzten Kriegsjahre geboren, erlebten, wenn sie nicht gerade zu den Begüterten zählten, Armut existenziell, als lebensgefährlich. Hunger und Kälte, das Fehlen angemessener Kleidung, die Defizite in gesundheitlicher Vorsorge und Behandlung konnten einem das Leben -- oder wie im Falle des einen Jungen aus dem Buch: den erfrorenen Fuß -- kosten. Das Risiko sank mit zunehmender wirtschaftlicher und (also) physischer Stärke, es stieg mit zunehmender Schwäche: Kinder waren besonders, arme Kinder ganz besonders gefährdet. Denn Heuersleuten fehlte das Geld, sich und die Familie zu versichern oder einen Arzt gar aus eigener Tasche zu bezahlen. Kinder, von ihnen gab es viele, gehörten schnell zu den Leidtragenden. Mit dem ungeschönten Realismus der Gesellschaftszeichnungen erreicht „Fiet" literarische Qualität und beklemmende Aktualität gleichermaßen: "Wer arm ist, stirbt früher". „In Wirklichkeit war alles noch schlimmer", wissen Zeitzeugen, die die Fünfziger am eigenen Leibe erlebt haben, ihren Mangel, die Schläge, die Angst. „Untertan", so lautet das Motto der Fünften Berner Bücherwochen, und die Geschichten von Fiet fügen sich unerwartet gut ein.

Dass die „Kinder der Stunde Null", selbst wenn sie in bitterer Armut aufwuchsen, dennoch auch gerne positiv auf jene Zeit zurückblicken, hat vielerlei Gründe. Einer ist, dass sie sich reich wähnen in ihrem gemeinsamen Fundus an Erlebnissen in und mit der Natur, mit Wind und Wetter, mit Tieren auf dem Hof und draußen in Wald, Wiese und Feld. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Natur machte den Tag oft genug mühsam, sorgte aber zuverlässig für Kurzweil. Und veredelt durch die Segnungen des Spiels -- des kostenfreien, spontanen, nicht durch Marken- oder Modetrends eingezwängten, des bedingungslosen Spiels -- schuf sie seltene Momente lang nachhallenden Glücks. Lieder und Gedichte, Spott- und Neckverse, Abzählreime, erlernt von den Älteren, Errungenschaften des eigenen Denkens allesamt (und keine eines anonymen Servers in einem anonymen Netz) verliehen diesen Momenten ihr besonderes Aroma, das manchem Älteren noch heute auf der geistigen Zunge zergeht wie Marcel Proust in der „Recherche“ der Geschmack der in Tee getauchten Madeleines.

Auch auf die Frage, woraus die heute Siebzig- und Achtzigjährigen ihre Erinnerungen sonst noch zu schöpfen wissen,  hat dieses Buch Antworten parat. Die einzelnen Episoden fügen sich zu einem überaus detailreichen zeitgeschichtlichen Kaleidoskop der Fünfziger in Berne und in Ganspe am Deich: Im bitterkalten Winter kommt Wärme vom Torfstich in der offenen Feuerstelle oder einem -- vielleicht auch gestohlenen -- Scheit Holz im Ofen. Der angewärmte Findlingsstein ersetzt die Wärmflasche. Die Bekleidung ist von der Mutter selbst gestrickt, Einzelauflage, Zweit-Kleider zum Wechseln gibt es ebensowenig wie Schuhe aus Leder. Die Mahlzeiten sind karg, wessen Vater Ziege oder Kuh sein eigen nennt und täglich frische Milch zu trinken hat, darf sich glücklich schätzen. Außerhalb der Schulzeit helfen Kinder mit im Haushalt, beaufsichtigen Geschwister, suchen Holz, versorgen Vieh. Wenn das Wetter besser wird, werden sie bei der Feldarbeit eingespannt. Fiet als Heuerjunge, als einer der ärmsten der Armen, weiß davon ein Lied zu singen ... Und wenn neben Schule und Arbeit noch Zeit verbleibt, dann, ja dann sind wir bei den oben erwähnten Spielen, mit denen die Kinder ihre freie Zeit zu füllen verstanden, bei den Spielen, die nichts kosteten als Hirn, Hingabe und Erfindungsreichtum: bei dem zahllosen unterschiedlichen Murmelspielen, bei allen möglichen Variationen von Gummihüpfen, bei Fangen und Verstecken zu allen möglichen und unmöglichen Regeln, bei Räuber und Gendarm, Spielen, die heute kaum ein Kind noch spielt.

Die Drittklässler aus Ganspe und Berne haben sich ihr Wissen über die Fünfziger. über deren Nöte und Spiele, angeeignet durch Gespräche mit Großeltern, Eltern und Lehrern, aber auch durch Befragung von Zeitzeugen, und sie haben daraus fantasiereich eigene Ideen zu Fiet und seinen Freunden entwickelt, weitere Personen dazuerfunden und sich Handlungsstränge ausgedacht. Die Erkenntnisse, die sie dabei gewonnen haben, waren für alle Kinder überraschend -- Damals gab es keine Heizung? Und weder Handy noch Computer? Noch nicht mal Fernseher? Zur Schule musste man laufen? Und der Lehrer hat einen geschlagen?! Natürlich waren dem Nachempfinden Grenzen gesetzt, Alfred Büngen hat darauf in seiner Einleitung hingewiesen, denn wirklichen Hunger hat keiner der Schülerautoren jemals kennengelernt (und Schläge vom Lehrer ebenfalls nicht). Und doch wird die Befassung mit Ur-Ur-Oma oder Ur-Ur-Opa nicht nur Wissen und Verstehen dauerhafter gesteigert haben als so manche "normale" Unterrichtsstunde. Auch die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, wird gewachsen sein. Dieses Buch zu Hause oder im Unterricht als Lektüre zu lesen, verspricht allen Kindern deshalb außer Spannung und einem Aha-Erlebnis nach dem anderen vielfältig Gewinn über den Tag hinaus.

Erwachsene werden das Buch wohl staunend begierig verschlingen -- nicht nur, weil sie so vieles wiederentdecken, was sie selbst noch erlebt oder wovon sie als Kind noch gehört haben. Sondern vor allem, weil die Texte vom "Heuerjungen Fiet" tausend Fragen in ihnen aufsteigen lassen werden, etwa die, wann wir eigentlich so reich wurden, dass wir unsere Kinderspiele und die unserer Eltern vergaßen.

Zwei Anmerkungen zum Schluss:

Die konkrete Verortung des Geschehens um Fiet in Ganspe und Berne war für die Drittklässler ein wichtiges Moment bei der Verlebendigung des von Zeitzeugen und Verwandten in Erfahrung Gebrachten. Sie erhöht den Lesespaß für Ortskundige wie für Auswärtige. Umso schöner ist es, mit der Fassmer-Werft ein ortsansässiges Unternehmen als Sponsor „mit an Bord“ zu haben. Danke!

Es ist das erste Mal, dass die beiden Berner Grundschulen bei einem solchen Vorhaben zusammengearbeitet haben. Auch, wenn das für den Verlagsleiter Alfred Büngen als Projektleiter zusätzliche Arbeit bedeutete: Das vorliegende Ergebnis macht Lust auf ein neues.

Reinhard Rakow
Berner Bücherwochen