Sammy erzählt von der Suche nach dem perfekten Körper - aus: Anne Rakel. Sammy und die Sache oder SOWAS KÖNNEN WORTE

Paula und ich suchen nach dem perfekten Satz. Faust sucht nach dem perfekten Augenblick. Manche Typen suchen die perfekte Geliebte. Manche Mädels suchen nach dem perfekten Körper.
Nadeschda sieht aus wie ein gerupfter Habicht. Alles an ihr guckt spitz hervor. Ihre Finger gleichen Krallen. Sie ist so leicht, dass man meint, gleich flöge sie davon. Mit harten Schwingen. Früher sah Nadeschda wie Nadeschda aus. Sportlich, schlank und gesund.
Isst du gar nichts, Naddi? Doch, doch, ich trinke nur erst meinen Tee in Ruhe aus. Sie trank den Tee in Drei-Jahres-Schlucken. Nadeschda, gehst du mit uns Eis essen? Du, ein andermal. Nadeschda nahm oft einen Teller vollgepackt mit Grünzeug ohne Sauce ohne Brot und kaute fünf Stunden auf einem Stück Gurke. Sie wurde immer weniger. Sie zog sich geschickt an, man sah es kaum. Eines Morgens kam Herr Hartmann in unsere Klasse: Guten Morgen. Eure Mitschülerin Nadeschda liegt im Krankenhaus. Ihre Mutter hat uns eben informiert. Es geht ihr schlecht. Sie wird vorerst nicht zu uns zurückkommen. Es wird lange dauern. Schock. Wir haben es doch gesehen! Wir haben es alle gewusst! Und keiner hat wirklich etwas getan. Schock. Nadeschda beim Sport. Wie sie ständig mit ihren Fingern ihren Oberschenkel umklammert und deren Breite misst. Sie mussten in ihren Fingerkreis passen. Wehe, wenn nicht. Naddi, sag mal, ist was? Du wirst ja immer weniger. Nach Größe 34 kommt nicht mehr viel, versuchen wir es. Ach, lasst mal, hab alles im Griff. Ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren und das Essen einfach vergessen. Sie rannte von morgens bis abends klapperdürr durch die Straßen unserer Stadt. Klapperdürr. Dabei hat sie jedes Referat mit Bravour gemeistert. Lange Hausarbeiten geschrieben. Extraaufgaben übernommen.
Sie lag erst in unserem Krankenhaus. Dann kam sie in eine Spezialklinik. Lag lange an der Sonde. Wir haben sie dort besucht. Hoi, Naddi. Sie guckt aus müden Augen, blaukalt ihre Lippen. Grüße von allen aus der Klasse. Danke. Stille. Wollt ihr mal unseren Garten sehen? Kommt. Gehen?, fra-gen wir uns. Wie? Auf diesen Streichholzbeinen? Aber ja. Sie ging nicht, sie lief. Immer noch Naddi. Wie ein Skelett. Schön hier, sie zeigt auf die Parkanlagen, als wären es ihre. Scheint ihr sehr zu gefallen. Ja, voll riesig. Wir haben einen Gärtner und einen Tierpfleger. Kommt. Tiere hier? Oh! Tiere! Ziegen, Ponys, Schafe, Esel, Gänse, Enten, Hühner, Ka-ninchen, Hamster, Meerschweinchen, Alpakas. Ich darf je-den Tag Beauty striegeln und putzen. Dann leg ich mich auf seinen Rücken und werde geschaukelt. Das ist das Schönste. Beauty kommt heran und knabbert an ihren blauen Finger-spitzen. Nadeschda lächelt versunken. Wir haben nicht viel geredet, aber uns viel erzählt.
Sie wird wieder, sagen die Ärzte. Sie muss, sagt ihre Mutter. Ich weiß nicht, sagt Naddi. Ein Jahr Klinik wäre gut, sagen die Ärzte. Das geht nicht, sagt die Mutter. Ich weiß nicht, sagt Naddi. Sie wird sterben, sagen die Ärzte. Das darf nicht sein, sagt die Mutter. Dann geh, sagt Nadeschda, dann geh bitte.
Nadeschda war wie die Kids aus der Klinik, in der ich die Sommerferien gearbeitet habe. Sie kann es schaffen. Sie wird es schaffen.

aus:

Anne Rakel

Sammy und die Sache

oder

SOWAS KÖNNEN WORTE

Geest-Verlag 2020

2. Auflage Januar 2021

ISBN 978-3-86685-822-0

Klappbroschur, Munken-Papier

ca. 168 Seiten,

11 Euro

 

"Hoi. Ich bin Sammy.“ So beginnt die Geschichte dieser besonderen jungen Frau, die uns teilnehmen lässt an ihrem Leben zwischen Schule, Freizeit, FSJ und Universität. Sie ist immer auf der Suche nach dem perfekten Satz, sucht in Literatur, Philosophie, Kunst, Naturwissenschaft und in sich selbst. Sie will sich mit Menschen umgeben, die ebenso wie sie und ihre Freundin Paula viele Fragen an das Leben haben und der Sache auf den Grund gehen wollen: Was geschieht? Und was bedeutet das, was geschieht?

Ein auch sprachlich faszinierendes Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen mag. Oldenburgs Bürgermeisterin Germaid Eilers-Dörfler schreibt nach der Lektüre begeistert in ihrem Begleitwort: „Sammy macht uns klar, ... es geht nicht darum, Theorien, Geschriebenes und Gedachtes als Moment für benotetes Wissen zu erlernen, sondern es in seiner Bedeutung für eigenes Leben und Gesellschaftlichkeit zu hinterfragen und durch eigenes Denken und Fühlen zu erweitern."

„Ich mag Denken. Denken verändert die Welt. Gedanken, die Arbeit machen. Die den Kopf was kosten. Ich guck gerade übrigens in die Sterne und könnte schon wieder ausflippen. Zu schön das alles. Zu groß. Ein Leben reicht nicht aus, das alles zu begreifen. Wir sind auch so ein kleiner Stern wie die da oben. Über und unter uns nur Universum. Oder? Vielleicht sollte ich Astronautin werden. Wie Juni. In Space-Girls. Ist die Suche nach dem perfekten Satz bescheuert oder einfach mein Ding? Fragen über Fragen. Herrje. Gute Nacht. Morgen wieder geöffnet ab 9:30 Uhr.“

Anne Rakel lebt und arbeitet seit 2011 in Oldenburg, ist seit 25 Jah­ren verheiratet, mag alles Mensch­liche und spielt gern mit den viel­fältigen Möglichkeiten von Wort und Humor. Als Geisteswissen­schaftlerin und Pädagogin weiß sie um die Bedeutung von Sprache für soziale Interaktion und die Her­stellung von Wirk­lichkeit.  
Veröffentlichungen: Valeria und Marie (2018); Mehr von Valeria und Marie (2019); Valeria und Marie gehen ihren Weg (2020); Das Märchen vom kaltherzigen König (2020).

 

und hier geht es zu einigen Hörausschnitten

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