Silvia Berger, München: "Bern? Wo ist Bern? Die Heimat für Wort, Sprache, Geist und Sinn ist wo ganz anders: 800 Kilometer von München entfernt Richtung Norden. In Bern-e!"

Silvia Berger, München:
"Bern? Wo ist Bern?
Die Heimat für Wort, Sprache, Geist und Sinn ist wo ganz anders: 800 Kilometer von München entfernt Richtung Norden. In Bern-e!"



ZwischenZeiten 2008 ---
Grenzerfahrungen 2009 --- Winterreise 2011

Trotz alledem 2013

untertan – Texte zur Zeit 2015 --- FriedenLieben 2017 --- Heimat/Menschheit 2019




7+1 Berner Bücherwochen – Etwas wie eine Hommage


Berne 1

Die Ersten Berner Bücherwochen verpasste ich.

Auf die Zweiten Berner Bücherwochen stieß ich: „Grenzerfahrungen“ – und dachte „Wow, in der noblen Schweiz“. Per Email reichte ich die Grenzerfahrungen einer in Verwirrung geratenen Reisenden ein. Wann ich gemerkt habe, dass es nicht in der noblen Schweiz war, sondern von mir aus gesehen am anderen Ende von Deutschland, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall ist die Strecke von München nach Berne fast doppelt so lang wie die von München nach Bern.

Also Berne! Berne? Was ein kleines „e“ am Ende eines Wortes ausmacht! Es nehme mir niemand übel: Berne? Nie gehört! (Auch mein Rechtschreibprogramm markiert es rot und verlangt, dass ich es ohne e schreibe.)

Nach den versäumten „ZwischenZeiten“ (2008) beginnt mit den „Grenzerfahrungen“ (2009) eine Liebesgeschichte, eine ganz seltsame, eine unromantische, unkitschige, fast unsentimentale. Eine Liebesgeschichte ohne Beziehungskiste. Eher das Gegenteil von Kiste, in der man doch eingesperrt wäre mit ewig kreisenden Gedanken um sich selbst und um das Objekt der „Liebe“. Hier ist es das Gegenteil, nämlich eine Öffnung, Weitung dadurch, dass Worte und Sprache und der mit ihnen verbundene Geist und Sinn, woher auch immer sie kommen mögen, eine Heimat finden – in Berne.

Für mich bedeutet diese Heimat einen Tag Fahrt hin und einen Tag zurück zur Alltagsheimat,num die 1600 Kilometer insgesamt, und es bedeutet einen Initiator und Organisator, Reinhard Rakow, der jedes Mal fragt: Wollen Sie sich das wirklich antun? Zum ersten Mal bei „Winterreise“ (2011). Ja, will ich. Es wird Zeit zu versuchen, es in Worte zu fassen, warum. Zeit für eine Liebeserklärung.

Worte und Sprache finden eine Heimat. Jemand nimmt sie auf, kümmert sich um sie und gibt ihnen, was sie brauchen: eine Stimme und eine Textur. Einen Raum, in dem sie verortet sind, um gehört/gelesen zu werden. Um ihrer selbst willen. Virtuosität, eleganter Stil, großartig verdichtete Sprache, Könnerschaft, Professionalität, ja, auch das findet seinen Platz. Aber auch das ganz andere Sprechen und Schreiben, das aus der Seele holpert, das vom Innen der Erinnerung nach außen drängt, das die Wahrnehmung des Außen im Innen reflektiert, das nach Worten sucht, um Worte ringt, die erzählt werden müssen, manchmal ganz unbeholfen, die einen Platz brauchen, um dastehen zu können und nicht ungehört/ungelesen zu verklingen und zu versinken.

Man muss nicht schon Autor*in sein, man muss auch nicht jung sein oder aus Berne und Umgebung kommen, man muss nur schreiben wollen. Einerseits. Andererseits entstehen auch regionale Anthologien und solche, die Schüler*innen eine Stimme geben. Ein Glück, dass es den Geest-Verlag mit Alfred Büngen und Inge Witzlau gibt, die all das stemmen! Und welch eine Chance für alle, die sich anregen lassen! Es ist ein Erlebnis, im Schreiben zu etwas in Dialog zu treten, von dem man nicht wusste, dass es in einem zur Sprache drängt: Im Schreiben verselbständigt sich das Geschriebene und antwortet und fordert neue Antworten heraus – ein Text entsteht.

Der gegebene Rahmen, ein Thema, eine Anforderung an Qualität auf sprachlicher, inhaltlicher, ethischer Ebene verhindern Geplapper und belangloses Geplauder und den Missbrauch der Sprache, setzen rechthaberischem, besserwisserischem, wütendem Gezeter oder einem selbstbezogenen Sich-Auskotzen Grenzen und filtern aus dem Strom der Texte die bemerkenswerten heraus. Ein gewaltiger Strom von Geschriebenem! Was mag aus hunderten, tausenden Texten auf die lesende Jury einströmen und einhämmern und niederprasseln – Sprache ist nicht immer schön und richtig und geistvoll. Schon gar nicht immer unterhaltend. Und dass sie gerecht sei, ist beileibe nicht selbstverständlich. Worte wiegen gewaltig, ob so oder so.

Jeder Text im Buch aber ist wie ein Stein in einem Flussbett: Kiesel mit filigraner Maserung, perfekte geschliffene runde Formen, schwere Brocken mit scharfen Kanten, hell und dunkel, rau und glatt, körnig und homogen, zerbrochen, schrundig, dazwischen schimmern Edelsteine. Man schlägt die Bücher auf und befindet sich im Fluss des Erzählens.

Berne/Warfleth

Berne ist ein merkwürdiger Ort. Ohne Auto scheint man verloren. Alles ist weit voneinander entfernt. Unterkunft außerhalb. Auch die Sache mit den Taxis ist alles andere als einfach. Kommt es? Oder nicht? Kann man überhaupt irgendeines bestellen? Besonders aufregend, wenn man zum Bahnhof muss. Die Wege in Berne sind weit! Gut ist es, zu normalen Öffnungszeiten anzukommen, um sich ein Fahrrad zu leihen. Dann kann man zu den Veranstaltungen und zwischen den Terminen an der Weser oder der Hunte oder der Berne entlang bei Wind und kalter Luft und manchmal auch bei Regen radeln. Gut auch, wenn man zu Fuß geht, denn es geht sich gut am Deich entlang nach Warfleth. Und das Ankommen in der kleinen Deichkirche, das ist ein wesentlicher Baustein in dieser Geschichte ohne Beziehungskiste (hier aber tatsächlich mit einer Spur von Sentimentalität versehen).

Viel bekommt die Münchnerin nicht mit von den vielen Veranstaltungen der Bücherwochen, von diesem Reichtum an Gesagtem, Gelesenen (München – Berne eben!). Aber dass jeweils zeitnah zu den Veranstaltungen Warfleth-Konzerte sind, ist mit ein gewichtiger Grund für die Antwort: Ja, will ich, wenn der Organisator fragt: Wollen Sie sich das wirklich antun? Ja, auf jeden Fall. Denn derselbe Organisator organisiert auch sie, die Warfleth-Konzerte, für deren Qualität und Intensität und Intimität die Münchnerin gerne München München sein lässt. Da wird man auf berührende Weise angesprochen durch sprachgewaltige und tief eintauchende Ankündigungen und Programmhefte, man wird wie an der Hand genommen und aufgenommen und betritt diese kleine Kirche. Dort wirken große Musiker*innen, dort bekommt in Liedern die Sprache eine neue Dimension, und jenseits der Sprache steigt die Musik zum Himmel hinauf und nimmt die Hörenden mit. Und der Himmel ist immer offen im Warfleth-Kirchlein. (Zum Glück mischt sich manchmal von Bass bis Sopran das Blöken der Schafe hinein, die an den Fenstern der Kirche vorüberziehen. So hebt man nicht ganz ab aus den engen Kirchenbänken.)

7+1

Die Reihe der Berner Bücherwochen hat eine denkwürdige Rhythmisierung.

2008 mit „ZwischenZeiten“ bestand wohl das Vorhaben jedes Jahr anzutreten. So folgte 2009 „Grenzerfahrungen“. Aber das konnte nicht gut gehen: jedes Jahr hunderte, tausende Seiten lesen, aus den besten 1 plus X Bücher machen, Veranstaltungen organisieren und so mehrere Wochen im Jahr Gedanken, Buchstaben, Sprache, Dichtung und Erzählung feiern? Das ist zu viel. Also alle zwei Jahre.

Mit „Winterreise“ schloss die erste Dreiheit ab: Schuberts Winterreise, sie selbst doch Ausdruck von Zwischenzeit und Grenzerfahrung in Wort und Musik, steht wie eine Überschrift darüber. Es ist, als hätten diese drei ersten Themen tiefe existenzielle Menschenerfahrung ansprechen, Abgründe und Höhen ausloten wollen.

„Trotz alledem“ läutete etwas wie einen Richtungswechsel ein, als wollte der Initiator zu etwas anstacheln: Da ist zwar das eine, die Erfahrung, die erlebte Wirklichkeit, das Missliche, Ungerechte, die Zumutung, da ist aber auch das Sich-Aufbäumen dagegen, der Widerstand, die große Fähigkeit zur Resilienz – vielleicht auch das Scheitern.

Die nächste Dreiergruppe konkretisiert dieses „Trotz alledem“:

„untertan – Texte zur Zeit“ (2015) weckte die Rebellen, „FriedenLiebe“ (2017) das Bekenntnis gegen offene und verborgene Gewalt, „Heimat/Menschheit“ (2019) entzündete das Anschreiben gegen die Unmenschlichkeit, Heimatlosen die Heimatsuche verwehren zu wollen, und das Suchen nach dem, was Heimat ist. Die erste Doppelanthologie (vorwärts und rückwärts zu lesen) erschien und mit ihr das Bewusstsein, dass Heimat ein zutiefst menschliches Bedürfnis und dass die Beheimatung der Menschheit eine zutiefst fragile ist.

Damit war die Sieben-Zahl vollendet, so wie eine Woche mit 7 einzigartigen Tagen vollendet ist. Die 8 reiht sich nicht einfach ein, ist keine simple Fortsetzung. Sie ist, wie in der Oktave, der höchste Punkt auf einer Skala und eröffnet gleichzeitig eine neue Ebene. Kein Zurück mehr: Etwas Neues! Eine neue Schwingung, ein neuer Klang, eine neue Färbung!

Zwischen den 7 vergangenen und den 8. Bücherwochen liegt ein Geschehen, ein Bruch, eine Unterbrechung, wie sie die Welt nicht erlebt hat. Ein Stillstand bei wachsender Unruhe und aufkeimendem Widerstand, ein ernüchterndes Erkennen der Ohnmacht der Mächtigen, ein Einbrechen gewohnter Lebensweisen, ein Unterworfensein unter merkwürdig beliebige Reglementierungen, die in unser innerstes Leben eingreifen. Eine Form der Diktatur, deren Ursprung im Dunkel ist, deren Diktator nicht ausgemacht und also nicht gestürzt werden kann. Ein erzwungener Sabbat, der der Schöpfung eine kleine Atempause gönnt, uns in unserer betriebsamen, getriebenen Welt aber den Atem stocken lässt. Eine Hoffnung, dass – danach – wirklich Neues Platz finden kann. Ein neuer Klang, eine neue Färbung des Lebens?

Das 8. Mal ist wie nach dem Siebener-Zyklus der Woche der neue erste Tag, wie bei der Vollendung der Oktav der neue erste Ton auf neuer Höhe:

MENSCH SEIN, HERZ HABEN, SICH EMPÖREN
Vom Mensch Sein und Herz Haben, vom Verweigern und Empören 2021


Das 8. Mal fordert heraus: den eigenen Standpunkt bis ins Herz hinein zu prüfen und zu sagen.


Berne 2

Bern? Wo ist Bern? Die Heimat für Wort, Sprache, Geist und Sinn ist wo ganz anders: 800 Kilometer von München entfernt Richtung Norden. In Bern-e!


2021, die Achten Berner Bücherwochen:

Der Rahmen der Veranstaltungen? Wird möglicherweise ein anderer sein müssen.

Menschen, die sich in Berne treffen? Vielleicht geimpft?

Konzerte in Warfleth? Ein Stoßgebet gen Himmel …

Neue Bücher? Ja, 7 an der Zahl! Dabei auch die Stimmen derer, die in diesem Corona-Jahr besonders geplagt sind, die alten Menschen.

Vorträge, Lesungen? Naja, wenn es sein muss mit Maske – aber hoffentlich mit vielen Menschen, die zuhören, fragen, mitreden.

Die „echten“ Berner und Bernerinnen und die Regionalen? Man wünschte sich eine sich steigernde (An-) Teilnahme.

Wollen Sie sich das wirklich antun? So kann man auch mal zurückfragen. Ja sie wollen! Unverdrossen, unverzagt, rastlos, resilient gegen alle Widrigkeiten greifen sie es wieder an, Initiator und Organisator*innen und geben zum 8. Mal eine Heimat: dem Wort, der Sprache, dem Geist, dem Sinn.


Silvia Berger, München, MA Philosophie und Evangelische Theologie, ist Schriftstellerin, Künstlerin und Pädagogin.