Und nun zum 2. Advent: Die komplette Geschichte von Dieter Krenz: Das Kind und der Abendstern und die Flaschenpost

Die Flaschenpost
1 Das Kind hatte in einer Kindersendung gesehen, was eine Flaschenpost ist. Das fand es so spannend, dass es auch eine losschicken wollte. Weil es aber noch nicht schreiben konnte, diktierte es seiner Omi einen Brief an ein Kind draußen in der Welt:
Hallo Kind,
ich bin bei meiner Omi. Hast Du auch eine Omi? Ich wohne in der Gartenstraße. Ich habe eine Schaukel und ein Baumhaus. Du auch? Wenn ich groß bin, werde ich Kapitän auf einem Schiff. Dann kann ich Dich besuchen.
Tschüß
Am Abend warf es das Fläschchen von der Landspitze aus ins Meer.
Meinst Du, dass meine Flaschenpost ankommt?,
fragte es den Abendstern.
Bestimmt,
antwortete dieser.
Das genügte dem Kind als Antwort.


2 Am nächsten Abend erinnerte sich das Kind an seine Flaschenpost.
Weißt Du, wann meine Flaschenpost ankommt?,
fragte es.
Wenn das Menschenkind an den Strand kommt, sie aufhebt, öffnet und Deinen Brief liest,
antwortete der Abendstern.
Da freue ich mich schon drauf – und meinst Du, das Kind freut sich auch?,
wollte es wissen.
Hundertprozentig,
sagte der Stern.
Da war das Kind zufrieden.


3 Nach einigen Wochen erinnerte sich das Kind wieder an seine Flaschenpost.
Meinst Du, meine Flaschenpost ist schon angekommen?,
fragte es.
Das glaube ich nicht. Das Meer ist ein langsamer Briefträger,
antwortete der Abendstern.
Hoffentlich bringt das Meer meinen Brief überhaupt hin,
zweifelte das Kind.
Sicher, auf das Meer kannst Du Dich verlassen. Es trägt alles an seinen Bestimmungsort.
beruhigte der Stern.
Da war das Kind zufrieden.


4 Als das Kind nach Wochen am Meer war, fiel ihm seine Flaschenpost ein.
Meinst Du, dass das Kind meinen Brief lesen kann?,
fragte es.
Sicher,
antwortete der Stern.
Aber wenn das andere Kind eine andere Sprache spricht,
zweifelte das Kind.
Eine Flaschenpost findet immer jemanden, der Deinen Brief übersetzt,
beruhigte der Abendstern.
Dann kann die Flaschenpost ja zaubern,
freute das Kind.
Verzaubern,
murmelte der Abendstern.


5 Immer wieder dachte das Kind an seine Flaschenpost.
Wann weiß ich, dass meine Post angekommen ist?,
fragte es.
Wenn Du es träumst,
antwortete der Abendstern.
Aber das ist doch dann nur im Traum,
wunderte sich das Kind.
Und - ist Dein Traum nichts?,
fragte der Stern.
Ich freu mich schon auf den Traum,
sagte das Kind und war zufrieden.


6 Als das Kind nach Wochen wieder am Meer war, dachte es an seine Flaschenpost.
Meinst Du, dass das Kind mir auch einen Brief schreibt?,
fragte es.
Da bin ich mir ganz sicher,
antwortete der Abendstern.
Und warum?,
wollte das Kind wissen.
Weil das Schreiben einer Flaschenpost ansteckend ist,
meinte der Stern.
Wie Schnupfen,
lachte das Kind.
Ja, aber schöner ansteckend,
murmelte der Abendstern.


7 Das Kind war in Sorge:
Kann meine Flaschenpost verloren gehen?,
fragte es seinen Stern.
Bestimmt nicht,
antwortete dieser.
Und warum nicht?,
wollte das Kind wissen.
So einen schönen Brief befördert das Meer nur zu gerne,
entgegnete der Abendstern.
Da war das Kind beruhigt.


8 Als das Kind nach einer Zeit am Strand entlang ging, entdeckte es ein Fläschchen, das aus dem Sand herausragte. Sofort dachte es an seine Flaschenpost. Doch das Fläschchen war leer.
Enttäuscht erzählte es davon am Abend:
Ich glaube mein Brief kommt nie an.
Doch,
beruhigte der Abendstern,
aber eine Flaschenpost ist keine normale Post. Sie arbeitet geheim.
Ach so,
freute sich das Kind, denn es wusste, dass etwas Geheimes auch immer etwas Besonderes ist.

9 Am einem Nachmittag war das Kind am Strand. Am Rande des Wassers kullerte eine kleine Flasche hin und her.
Das Kind hob sie auf. Im Inneren befand sich zusammengerollt ein Stück Papier. Das Kind war ganz aufgeregt.
Es öffnete die Flasche und zog das Papier heraus. Der Brief war in einer fremden Sprache geschrieben. Enttäuscht nahm es das Papier mit zur Omi. Die beherrschte ein paar Sprachen. Tatsächlich konnte sie den Brief übersetzen. Sie las vor:
Hallo,
Ich wohne in einer Stadt am Meer. Die ist sehr schön. Wo Du wohnst, ist es bestimmt auch wunderbar. Meine Omi sitzt ganz oft mit mir am Meer und wir schauen den Wellen zu.
Ciao
Das Kind war begeistert. Am Abend fragte es den Stern:
Meinst Du, das Kind hat sich über meinen Brief auch so gefreut wie ich über seinen ?
Ganz sicher,
antwortete der Abendstern,
aber beim Abschicken war die Freude bestimmt am allergrößten.
Da nickte das Kind – und war glücklich.