Vorwort von Dietmar Linke zum Band 'Geboren 1938 - wohnaft Liebknchtstraße'

Dietmar Linke, der auch im Gefolge der Buchpremiere des Seminarfachbands 'geboren 1938 - wohnhaft Liebknecht' zusammen mit Barbe Maria einige Lesungen im Gymnasium Antonianum und eine öffentliche Lesung aus seinem eigenen Band mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung halten wird, schreibt in seinem Vowort (Auszug):

"Wieweit ist es möglich, Erfahrungen von einer Generation an die nächste zu vermitteln? Wie können Jugendliche, die in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aufwachsen, einen Zugang finden zum Leben und zum Alltag in einer Diktatur?
Konflikte, die in diesem Lebensalltag entstehen, sind auch und vor allem emotionaler Natur. Hier könnte ein Zugang möglich werden: Ich versetze mich in die Situation der Men-schen in einer Diktatur, versuche nachzuempfinden, was geht in ihnen vor? Welche gesellschaftlichen Verhältnisse haben sie geprägt? Wie fühlt sich ein Mensch, der von der Gesellschaft ausgegrenzt und diszipliniert wird? Der das Land verlassen möchte, weil er keine andere Lebensmöglichkeit sieht? Wie lebt ein Funktionär in dieser Gesellschaft? Wie der hauptamtliche, wie der inoffizielle Mitarbeiter der Stasi?
Genau das praktizieren die Autoren dieses Buches. Die Schüler des Gymnasiums Antonianum Vechta versetzen sich in die Rolle von Heranwachsenden, die 1938, zur Zeit des Nationalsozialismus, geboren werden, die das Kriegsende und die Zeit danach in Berlin erleben.
Die Personen, die in diesem Buch vorgestellt werden, woh-nen alle in einer Straße, in der Liebknecht-Straße im Zentrum von Ostberlin, die bis zum Kriegsende Kaiser-Wilhelm-Straße hieß. 1947 wurde diese Straße nach dem Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Karl Liebknecht umbenannt. Mit der Umbenennung von Straßen und Plätzen wurde signalisiert: Kaiserreich und Faschismus sind Vergangenheit. Großgrundbesitzer und Kapitalisten sind enteignet. Die Verantwortlichen der NS-Vergangenheit leben in Westdeutschland. Auf dem Terri-torium der Sowjetischen Besatzungs-Zone beginnt eine neue Ära. Nach dem Vorbild der Sowjetunion soll eine neue, eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden. Alle Bürger sollen für die neue Gesellschaft gewonnen werden, frei nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Der Staatssicherheitsdienst, als „Schild und Schwert der Partei“, handelt nach dem Grundsatz: Bei Feinden der Republik sind alle Mittel recht.
Die Bürger der Liebknecht-Straße werden Zeugen der gesell-schaftlichen Veränderungen, die durch die Gründung der DDR im Oktober 1949 eingeleitet werden. Sie erleben haut-nah die Teilung der Stadt in Ost- und West-Berlin. Aber auch die offene Grenze bis zum Mauerbau am 13. August 1961. Sie leben mit der Mauer. Und werden von der Öffnung der Grenzen im November 1989 überrascht.
Das Buch Geboren 1938 – wohnhaft Liebknechtstraße nimmt den Leser mit in diese Straße, in den Alltag jener Zeit. Geschichten werden erzählt, die gefangen nehmen. So höre ich von Konflikten in der Schule, von beruflichen Schwierig-keiten und Anpassung, von Bespitzelung und vom widerständigen Verhalten in der DDR.

Jalda Rebling, die jüdische Sängerin und Kantorin, die in der DDR lebte, sagt:
„Wichtig ist mir, dass die Kinder ihre Träume leben, dass wir unsere Träume leben. […] Und die Kinder, die in der freien Welt groß geworden sind, denen sage ich immer wieder, verteidigt diese Demokratie, die nicht perfekt ist. Es gibt so viel Ungerechtigkeit, aber verteidigt sie mit Händen und Füßen! Für sie ist das Reisen selbstverständlich, aber ihnen klarzumachen, dass da nix selbstverständlich ist, gar nix! Dass man von seinem Wahlrecht Gebrauch machen muss und den Mund aufmachen muss, wenn Ungerechtigkeit ist.“ ( Barbe Maria Linke: Wege, die wir gingen. Zwölf Frauen aus Ost- und Westdeutschland geben Auskunft. Vechta 2015. S. 286.)