W. Mangold schreibt über Heinrich Rahns Roman 'Der Jukagire'

EINE UNGLAUBLICHE LIEBESGESCHICHTE
Leserstimme zum Roman von Heinrich Rahn „Der Jukagire“

Zum Vielerlei gehört hier mehr als Sterben,
Soviel ist klar und wird vorausgesetzt.
Doch bleibt, nach allem Abzug vom Verderben,
Zumindest diese Einsicht bis zuletzt.

Die Einsicht bleibt, dass wo wir gehn uns stehn,
Gestorben wird, und es hilft kein Geschrei,
Die Gegenwart ist alles was wir sehn,
Vergangenheit ein Staubfleck in der Mongolei.

(Durs Grünbein, Kleine Litanei aus:„Nach den Satiren, 1999)

Die Überschrift des Romans, „Der Jukagiere“, sowohl der Name des Autors, Heinrich Rahn, bis dahin dem russlanddeutschen Leser völlig unbekannt, lassen aufhorchen. Da kommt ein Unbekannter daher und kommt sofort mit einem Roman, der Großform der Literatur, der anspruchvollsten Form der Literatur, dabei in Deutsch geschrieben. Eine doppelte Bewältigung: inhaltliche und sprachliche gleichzeitig. Eine außerordentliche Leistung für einen russlanddeutschen Aussiedler. Gratulation!

Der Roman: eine faszinierende Liebesgeschichte, heiße leidenschaftliche unbefleckte Liebe zweier jungen Herzen, die bis zu Ende anhält trotz widrigster unmenschlicher Umstände, politisch und ideologisch verursacht, die standhält und nicht vergeht: zwischen Johann Nickel und Marischa Malinina. Diese Liebe gab ihnen die Kraft angesichts aller Gefahren und aller Schwierigkeiten zu überleben. Liebe kann im wahrsten Sinne des Wortes gleich dem Glauben Berge versetzen und wer sehnt sich nicht nach solcher Liebe wie die zwischen Wanja und Marischa, einer Liebe, die so menschlich, so schlicht und doch so romantisch anfängt:

„Hinter einer bunten Bettdecke schauten zwei junge, erhitzte Gesichter hervor. In ihren glänzenden Augen spiegelten sich die hellen Flammen des Eisenofens wider. Die nassen Klamotten hingen auf einer Leine und leichter Dampf stieg von ihnen empor.
Ist dir warm, Wanja?
Ja! Du glühst, Marischa!
Träumen wir, Wanja?
Bestimmt, Marischa, gewiss…
Danach wurde es still. Nur das Feuer knisterte lustig weiter.“ (S. 19)

Ein ungewöhnlicher Roman, voll Abenteuer, eingebettet in die tragische Geschichte der Russlanddeutschen und in den gesamten sowjetischen Kosmos mit all seinen politischen und ideologischen Abgründen. Eine unglaubliche Geschichte. Kaum fängt man an das Buch zu lesen, gerät man in einen starken Sog und kann nicht loslassen, eher man es zu Ende gelesen hat. Wenigstens mir erging es so: Ich begann am späten Abend und verschlang es gegen Mitternacht. So was ist mir schon lange nicht mehr passiert; ansonsten kann ich wochenlang mit unzähligen Unterbrechungen ein Buch lesen, exemplarisch der hoch gepriesene und von der jüngsten Frankfurter Buchmesse ausgezeichnete Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp, an dem ich schon seit Wochen herumkaue.

Das Schicksal eines Russlanddeutschen auf eine ganz andere, eine abenteuerliche, ungewöhnliche, faszinierende Art und Weise erzählt – das ist neu in der russlanddeutschen Literatur und erweckt Interesse. Hiermit knüpft Heinrich Rahn, bewusst oder auch unbewusst, an eine alte fast vergessene Tradition der deutschen Abenteuerliteratur, Literatur der „Aventüre“, als Pate sei hier erwähnt der allgemein bekannte Roman von Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen „Der abenteuerliche Simplicissimus“, der den Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts als ein schreckliches und grausames Monstrum zum Inhalt hat – in Anlehnung an ihn hat übrigens Bertold Brecht sein Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ verfasst. Und war das Sowjetsystem wohl ein geringeres Monstrum als der Dreißigjährige Krieg, das Millionen und abermals Millionen unschuldiger Menschen auf dem Gewissen hat, darunter die Russlanddeutschen, die es besonders getroffen hat? Bestimmt nicht!

Im Mittelpunkt des Geschehens steht das ungewöhnliche Schicksal des jungen Russlanddeutschen Johann Nickel alias Ivan/Wanja; nach der Liquidierung seiner Eltern als vermeintliche Volksfeinde kommt er zwecks der Umerziehung von Staats wegen Spross elterlicher Staatsfeinde in ein Waisenheim, wehrt sich gegen die sowjetische Entmenschlichung (bekennt sich weiterhin zu seinen Eltern und ist sich ihrer Unschuld gewiss), verliebt sich, gerät in zwiespältige und auswegslose Situation, wird des absichtlichen Mordes eines hohen sowjetischen Beamten verdächtigt und beschuldigt, ins Gefängnis - mit anderen Worten Todeslager - gesteckt, flüchtet und erlebt eine wahre Odyssee auf seinem weiteren Lebenspfad.  

Dabei ist im Roman so vieles unglaublich und abenteuerlich, so seine Flucht aus dem Gefangenenlager, seine Genesung, seine Inkarnation in einen Schamanen, selbst seine Abstammung von einem Russlanddeutschen und einer Jukagirin und insbesondere die Verwandlung in einen anderen Menschen - Nickel zu Maksudow, was schon an Mystik grenzt. Aber in einem Abenteuerroman ist bekanntlich nichts unmöglich.   

Lesen bildet bekanntlich und so ergeht es einem beim Lesen des Romans von Heinrich Rahn „Der Jukagiere“: Man erfährt „so nebenbei“ sehr viel über Leben und Weben sibirischer Völker, über das Sowjetsystem mit seinem Archipel-Gulag, speziell über das Schicksal der Russlanddeutschen, über Klima, Natur, Tiere und Fauna des fernen Sibiriens, über die Taiga voller Reize und Bedrohungen und viel-viel mehr.

Übrigens ist der Autor ein ausgezeichneter Naturbeobachter, ein Meister der Naturschilderung; seine Naturbilder stehen aber nie isoliert, sie bereiten den Leser vor auf ein wichtiges Ereignis, bringen ihn in eine bestimmte Gefühlslage, sie sind wahre Stimmungsbilder:

„Die Hütte stand in der Mitte eines Talkessels an einem schmalen Bach, der wie ein gewundener Eisgürtel glitzerte. Rundherum erhoben sich hohe Berge, deren steile Hänge mit einer Nadeldecke aus buschigen Zirbelkiefern und kahlen Lärchen ummantelt waren.“ (S. 103)

Das ist nicht bloß Beschreibung, das ist Schilderung, das ist Literatur hoher wenn nicht höchster Qualität. Und das Buch ist voll solcher oder ähnlicher Beispiele. Die besondere Stärke des Autors sind die Bilder, die nur ein echter Dichter sehen und auch noch sprachlich wiedergeben kann, hier ein paar Kostproben:

„Was die Sträflinge betraf, so bekamen sie überhaupt keinen Lohn. Je mehr von ihnen in der kostenlosen Gefriertruhe des Nordens konserviert wurden, desto mehr wurden nachgeliefert.“ S. 44)

„Denn in der dritten nasskalten und stockfinsteren Nacht, die der Flucht folgte, flackerte ein nervöses Licht aus dem Verwaltungsgebäude.“ (S. 61)

„Seine wie aus Marmor gemeißelten Gesichtszüge strahlten Erleuchtung aus.“ (S. 122)

Besonders gelingt Heinrich Rahn die Darstellung von Tieren:

„Der Elch hatte sich nach einiger Zeit etwas beruhigt. Anscheinend sah er mich wegen der buschigen Zweige nicht mehr. Er schien nun etwas Neues zu wittern. Seine langen Ohren schlugen hoch und die großen, feuchten  Nüstern öffneten sich. Ich hatte von oben einen weiten Ausblick, denn rundherum standen fast nur entblößte Birken und Espen. Und so konnte ich den Bären, der sich unbekümmert in unsere Richtung bewegte, schon vor dem Elch sehen. Er ging, seinen Köper hin und her wiegend, sanft und geräuschlos und beschnüffelte dabei die Mooshügel.“ (S. 141)

Das Polarlicht spielt eine besondere Rolle und ist eine originelle Erfindung von Heinrich Rahn speziell für diesen Roman; vergleichbar mit dem Maus-Corser des modernen Computers bringt es den Leser im Nu von einem zum anderen Ort:

„Das Polarlicht schickte seinen dunkelroten Strahl zu den Verschollenen. Einige Monate waren bereits vergangen. Der nördliche Frühling zögerte sein Kommen noch weiter hinaus. Eine bedrohliche Stille herrschte in der Hütte im namenlosen Talkessel. Das Feuer im Herd flackerte nur spärlich.“  (S. 110)

Über die ganze Strecke des Romans, und das sind immerhin 267 Seiten, kommt Heinrich Rahn ohne übel riechende Fluch- und Ruch-, Sumpf- und Schlupfwörter aus, die in der modernen deutschen Literatur dicht gesät sind und oftmals wie Jauche hoch stinken, das einem aufstößt und übel zum Kotzen wird, so der Roman „Die Lust“ der Nobelpreisträgerin 2004 Elfriede Jelinek, um nur ein Beispiel hier zu nennen.
Abgeschmackten Wörtern, die hier schon jedes Kindergartenkind gebraucht, geht er absichtlich aus dem Wege, und das nicht bloß aus Prüderie, er braucht sie einfach nicht, kommt auch ohne sie aus und knüpft somit an die Tradition der klassischen Literatur, die schon immer jegliche Schlüpfrigkeit, Unflätigkeit, die Exkremente, Fäkalitäten und Obszönitäten wie die Pest verpönte und vermied.  
Und das kann man nicht genug hoch dem Autor anrechnen; übrigens pflegt Heinrich Rahn einen schlichten, sachlichen, ruhigen und ausgewogenen Stil, ohne devote Übertreibungen, ohne welche Zerrungen und Verzerrungen, Zückungen und Verzückungen, deren die deutsche Gegenwartsliteratur überhäuft ist. Das ist wohl überhaupt sein Naturell, ihn scheint nichts aus der Ruhe zu bringen, er arbeitet gründlich und akribisch, hier vielleicht die schönste Szene aus seinem Roman - jedenfalls für mich -, die an Erotik hauchdünn grenzt und höchste Literatur im klassisch humanen Sinne ist und mit ihr gar wettstreiten kann:

„Ivan und Kina benötigen in dem rasch aufgebauten Zelt keinen Schlaf. Geplagt von ungeheurem seelischen Durst und Hunger, prallen die beiden Gegensätze aufeinander und rissen die Kleiderrinde voneinander. Danach schluckte die buschige Fangblume hastig das federnde Rohralien, das wild in den feurigen Tiefen hin und her raste. Aber es wollte sich nicht befreien, sondern genoss die Gefangenschaft und schoss eine spritzige Salve frecher Eroberer, die die Burg der Begierde furchtlos angriffen. Sie bildeten eine lebende Pyramide und schoben einen ihrer dickköpfigen Mitstreiter über die Mauer, damit er sich mit der Prinzessin der Festung verkuppeln konnte, um ein neues Wesen zu zeugen. Bei dieser
einzigartigen Schlacht gingen alle übrigen Angreifer zugrunde, wobei Schmerz und Jubel sich vereinten und in einem zarten, zornigen Ausruf in der nächtlichen Taiga verhallten. Draußen verspürten die saftigen Kronenblätter einen Duft von Rosmarin und stillten unaufhörlich den noch immer steigenden Durst, während die wuseligen Wesen ihr kämpfendes Verlangen fieberhaft fortsetzten. Die Sonne ging mehrmals auf und unter, bis eines Morgens das Begehren gesättigt war und die geschwächten Körper nach tierischer Nahrung lechzten. Ein neugieriger Auerhahn, den die ungewöhnlichen Geräusche im Zelt aufmerksam gemacht hatten, fiel zu Boden, durchbohrt von einem scharfen Pfeil, der von einem Bogen abgesprungen war. Dies war die erste Tat, die Kina als Frau vollbrachte, während ihr Gemahl schlief. Dann machte sie ein Feuerchen. Sie bedeckte den großen Vogel samt schwarz glänzenden Federn mit sengender Glut und Asche. Und einige Zeit später, als Ivan erwachte, wurde der Hahn einfach aus dem Gefieder wie aus einem Futteral herausgenommen. Das duftende gebackene Fleisch kam zum Vorschein. Ein köstliches Festmahl begann…  (S. 128-129)

Ob der Roman auch Schwächen aufweist? Doch, auch das gibt es und kommt stellenweise vor, die aber keinesfalls die Qualität des Werkes schmälern oder herabsetzen, die dem gesamten Romangewebe keinerlei Abbruch tun.

W. Mangold