Wendelin Mangold rezensiert Ingmar Brantsch: Inkorrektes über die Political Corecctness

UNGESCHMINKTE REFLEXIONEN

Ich weiß wohl, daß diese Worte vergebens dastehen; aber sie mögen als offenbares    
Geheimnis der Zukunft bewahrt bleiben. J. W. Goethe

Unlängst empfing ich eine Büchersendung und war nicht wenig überrascht über den Absender: Ingmar Brantsch*. Ich war auf dem Laufenden über sein neues Buch und brannte darauf, es zu bestellen: „Inkorrektes über die Political Correctness. Aphorismen und Esseys“ (Geest-Verlag, Vechta 2009, S. 2004, ISBN 978-3-86685-155-9, 12 Euro).
Und nun habe ich es in der Hand, dazu noch „Mit besten Grüßen“ selbst vom Autor, und machte mich voll Dankbarkeit sogleich ans Lesen. Ich muss gestehen: keine leichte Lektüre, allein schon die Begriffe „Political Correctness“, „Aphorismus“, „Essay“ sind kein Leckerbissen.
Also eine beträchtliche Sammlung von Aphorismen und Essays, die sich verschiedenen Problemen der Politik und Gesellschaft, der Literatur und Kultur widmen, oftmals ironisch und humoristisch, widerborstig und bissig.

In meiner Vorstellung verknüpfte sich bis dato der Aphorismus in erster Linie mit großen Namen wie zum Beispiel im deutschen Sprachraum mit Lessing, Lichtenberg, Goethe, Schiller, Schlegel, Schopenhauer, Nietzsche u. a. Somit hat sich der Aphorismus bei mir dogmatisch fest geankert: ein geistreicher Gedankensplitter, ein Geistesblitz als Sinnspruch, als Sentenz, als Maxime oder Xenien, oder vielleicht einfach als Reflexionen kurz und reizvoll formuliert, philosophisch, ästhetisch und moralisch gedacht, aber subjektiv und apodiktiv postuliert – alles in allem, Stärke und Schwächen dieser anspruchsvollen und umstrittenen literarisch-philosophischen Gattung. Man weiß vieles über die Aphorismen und kennt auch sehr viele gute Beispiele und streitet trotzdem auch heute weiter über diese Gattung, arbeitet an ihr, erweitert sie, modernisiert sie – bald gelungen, bald misslungen.

Und was ist mit dem Essay als Gattung? Sind die Grenzen zwischen dem Aphorismus und dem Essay nicht oftmals fließend und verwässert? Und so steht im Buch von Brantsch z. B. auf Seite 69 ein Text, bestehend aus nur einem kurzen Satz: „Auch Computer können keine Milchmädchenrechnungen lösen.“ unter dem Titel „Die Grenzen des Fortschritts“, ihm  folgt aber ein langer Text über fast drei Seiten mit der Überschrift  „Ein Political Correctnesss-Denkmal für den historischen Versager Imre Nagy“ (Seiten 69-72) – ist der erste Text ein Aphorismus, so hat der zweite Text damit wenig zu tun; er ist höchstens sein nächster, aber ungleicher „Bruder“, nämlich ein Essay.

Klugerweise sind die Aphorismen und die Essays im Buch nicht rubriziert, dafür aber durchgehend thematisiert und in Kapitel gegliedert, wovon das geistreiche Inhaltsverzeichnis zeugt, z. B. „I. Jung und Alt im Schlagabtausch“ (S. 7-14); „II. Mann und Frau im Essigkrug“ S. 15-26) usw. – insgesamt 8 Kapitel. Der Autor überlässt es einfach dem Leser: ob Aphorismus oder ob Essay – nicht so wichtig, Hauptsache, die Texte reizen den Leser, reißen ihn mit, regen ihn zum Denken und Nachdenken an.

Im Buch kriegen ihr Fett sowohl prominente Persönlichkeiten als auch weniger oder gar unbekannte Personen ab, so im Kapitel III. „Lebenslüge Literatur – Wahrheit und Dichtung“ (für mich als Literat der interessanteste und spannendste Teil des Buches) neben Hölderlin, Goethe, Schiller stehen Zeitgenossen Ernst Jünger, Böll, Grass, Biermann, Enzensberger, Handke, Max von der Grün, Wallraff, Herta Müller u. a., z. B. unter „Der Sprachkünstler oder Beckett extrem“: „Seine Kunst bestand in der Reduktion der Sprache zu Gunsten von Tönen und Geräuschen, bis zum Vorbeirauschen von allem.“ (S. 44) – Wer möchte da wohl gemeint sein: Pastior oder doch Jandl?

Ingmar Brantsch geht mit offenen Augen und Ohren durch die Welt, sieht die  Merkmale, Muttermale und Makel unserer Zeit; dabei ist er nicht leichtgläubig, sondern eher kritisch-misstrauisch, ironisch-distanziert, z. B.: „Political correct Jawohl, ich bin ein Mitläufer. Mitlaufen ist immer fortschrittlicher als reaktionär stehen bleiben.“ (S. 150) oder „Maulheldentum Der Mut, der sich nie in Gefahr bringt, ist unwahr, weil die Wahrheit konkret oder gar nicht ist.“ (S. 160)

Der Autor beweist Mut, indem er die aktuellen Probleme aufs Korn nimmt, die Missstände, die Versäumnisse, die Ungerechtigkeiten beim Namen nennt, scharfe Kritik übt, aneckt; er versteckt und verschanzt sich nicht trotz der Gefahr, sich dadurch unbeliebt zu machen, angerempelt und in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden, im Gegenteil zu denjenigen, die  denken und meinen ‚Das wird schon.  Das geht auch ohne mein Zutun. Die oben werden es schon richten.’ Leider ist diese passive Haltung ein verbreitetes Übel nicht nur bei uns Russlanddeutschen. Damit trifft und spricht Brantsch sehr oft unsere für sich behaltene Meinung aus. Dabei sind neben Literatur, Politik und Gesellschaft die Ossi-Wessi-Probleme („Problemfeld Deutschland“) und die Bildungsprobleme („Bildungshorror des Schulalltags in der Pisastudie noch geschönt“) seine Lieblingsthemen.  

Was lehrt uns das Buch? Nämlich: nicht passiv zuschauen, was um uns herum vor sich geht, sondern eine persönliche Haltung haben und üben, und - wenn nötig – nennen, kritisieren und anprangern.

Ingmar Brantsch ist kein unbeschriebenes Blatt für den russlanddeutschen Leser: er ist ein guter Kenner nicht nur seiner eigenen Geschichte, Literatur und Kultur, sondern auch die der Russlanddeutschen, für die er sich schon immer rege interessiert und sich massiv eingesetzt, sie in Schutz genommen und für sie so manche Lanze gebrochen hat. Er ist verständnisvoll, was unser leidvolles Schicksal betrifft, und ist uns daher sehr gewogen, was auch wohl der Grund sein mag, dass er die russlanddeutschen Autoren eher lobt, als er sie scharf kritisiert oder geschweige denn verreißt, was beileibe kein Vorwurf hier sein soll. An dieser Stelle erinnere ich den legendär gewordenen Spruchs des prominenten russlanddeutschen Dichters Boris Brainin, Deckname Sepp Österreicher, der sich einmal folgenderweise geäußert haben soll: Um die russlanddeutsche Literatur zu sehen, muss man auf die Knie gehen.

Das neue Buch von Ingmar Brantsch liest sich bestimmt nicht wie ein Roman: Ist das Lesen eines Romans vergleichbar mit einer schnellen und staufreien Fahrt, dass alles nur so unscharf vorbei flitzt, so ist das Lesen dieses Buches dagegen, könnte man sagen, staubehindert: immer ein paar Meter weiter – und so über 200 km, pardon, Seiten. Bekanntlich hat aber eine langsame Fahrt ihre Vorteile – man sieht viel mehr und bekommt auch viel mehr mit, als beim halsbrecherischen Brettern über die Autobahn.

Weitere Bücher von Ingmar Brantsch der jüngsten Zeit (alle im Geest-Verlag erschienen): „Goethe und Heine hinter Gittern“; „Pisastudie getürkt“; „Das Weiterleben der rumäniendeutschen Literatur nach dem Umbruch“.

* 1940 in Kronstadt/Siebenbürgen geboren. Erststudium der Germanistik und Romanistik an der Universität Bukarest, nach der Übersiedlung Zweitstudium an den Universitäten Köln und Bonn, dann Arbeit als Lehrer. Intensive literarische und literaturwissenschaftliche Tätigkeit, zahlreiche Veröffentlichungen. U. a. Mitglied im VS, lebt und arbeitet in Köln.

Wendelin Mangold