Yvonne Grüner - Sedunihisi (Im Rahmen der Antirassismusaktion 'Vor allem andren bin ich Mensch'

Sedunihisi                                    Yvonne Grüner 

Wir saßen auf den Sofas in dem viel zu kleinen Wohnzimmer und lächelten uns an. Zu mehr reichte es nicht. Die Mutter hatte das Baby auf dem Schoß, das sie mit Singsang in den Schlaf wiegte, der Junge und das Mädchen ließen sich von den Polstern auf den Boden gleiten. Sie kicherten dabei. Der  Vater saß links neben mir und bot mir erneut mit einer Geste eines der süßen Gebäckstücke an. Ich nickte dankend und griff dieses Mal zu. Klebrig süß verteilte sich der Teig mit dem Honig im Mund, kurze Zeit ruhte ich mich darauf aus, nichts sagen zu können.
Wir sahen uns das zweite Mal. Ich hatte zugesagt, die Familie zu unterstützen. Bei Behördengängen, beim Alltagsgeschehen, bei den Hausaufgaben der Kinder, eben bei allem, was für sie anfiel hier in diesem für sie fremden Land.

Beim ersten Mal war eine Dame von der Stadt dabei gewesen. Wir hatten uns vorgestellt und sie umriss kurz die Fluchtgeschichte der Familie. Sie fragte, ob wir uns vorstellen könnten, miteinander zu "arbeiten". Sowohl die Familie, als auch ich hatten eifrig genickt. Ich fühlte mich wohl.
Nun war ich erneut da, hatte mir die Schulsachen der Kinder zeigen lassen, den einen oder anderen behördlichen Brief gelesen, mit Händen und Füßen erklärt. Nun saßen wir erschöpft nebeneinander und sahen uns lächelnd an. Worüber kann man sprechen, wenn die Worte fehlen? Was kann man sagen, wenn Fakten rund um das eigene Leben benannt wurden (Alter? Mann? Kinder? Eltern?). Sie fragten nicht mehr. Alles andere bedurfte viel mehr Wörter, Sätze, Buchstaben, die sie noch nicht konnten und selbst dieser kurze Austausch war anstrengend gewesen.
Und ich? Ich wusste von Eltern und Geschwistern, die in Syrien waren.  Aber nach der alten Heimat fragen? Wie sie gelebt hatten? Wie fragt man vorsichtig und mit Bedacht nach dem, was sie hinter sich lassen mussten? War es dafür nicht noch zu früh? Machte ich sie damit traurig?

Ich spülte den Rest des Gebäcks mit Tee hinunter und lächelte erneut. "Sehr lecker", sagte ich. "Lecker", wiederholte die Mutter. Ich nickte. "Gut", schob ich hinterher, das war leichter zu verstehen. "Ja", sagte sie, stand auf, das Baby auf dem Arm und wanderte in der Küche herum, die im Wohnzimmer integriert war. Sie zeigte auf unterschiedliche Flaschen und Packungen, nannte mir die Zutaten auf kurdisch, ich übersetzte auf Deutsch, soweit ich die Inhalte der Zutaten begriff. Sie wiederholte. Das meiste hatten sie im türkischen Laden gekauft. Sie erklärte mir, wie das Gebäck hergestellt wurde. Ich nickte immer wieder, verstand aber nur die Hälfte. Vom Backen hatte ich kaum Ahnung, doch ich begriff, dass es ein aufwändiger Herstellungsprozess war. Dann war sie fertig und ich nickte erneut, sagte "gut", weil mir nichts anderes einfiel und dann bewegten wir uns wieder Richtung Sofas. Eine ratlose Stille machte ich breit.

Die Kinder saßen noch immer auf dem Boden. Sie hatten alles still mit großen Augen verfolgt.
Ich hatte mir vorgenommen, mit der Familie die Stadt anzusehen, immer wieder Vokabeln einfließen zu lassen, vor allem bei den Kindern. Ich wollte ihnen den Park zeigen, die Spielplätze, mit den Kindern in die Bibliothek gehen und Bücher ansehen, mit der Mutter den Markt besuchen. Doch ich begriff, dass sie noch gar nicht so weit waren. Sie waren dabei, in der Wohnung anzukommen, einen Rhythmus zu entwickeln, grundlegende Dinge zu klären. So gut es ging wollte ich ihnen dabei zur Seite stehen, doch so langsam wurde mir bewusst, dass ich schneller an Grenzen stieß, als ich es erwartet hatte.
"Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist rot", sagte ich und schaute die Kinder auffordernd an. Ihre dunklen Augen blitzen sofort auf. "Hä?" fragte der Junge. "Rot", sagte ich und zeigte auf einen roten Stift. "Das ist rot. Wo ist noch rot?" Mit einer Geste zeigte ich im Wohnzimmer und in der Küche herum. Das Mädchen hatte verstanden. Es sprang auf und lief zu einer roten Tasse im Küchenschrank. "Da!" Die Kleine strahlte. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nicht die Tasse. Etwas anderes." Die Kinder blickten umher und auch die Mutter und der Vater schauten sich um. Das Mädchen und der Junge eilten herum und zeigten auf alles Rote, was sie sahen. Dann berieten sie sich auf kurdisch mit ihren Eltern. Schließlich zeigte der Junge auf einen roten Schal, der um den Hals eines Teddybären geschlungen war. Ich nickte und rief: "Ja, richtig, der Schal."
"Noch ein." Der Junge sah mich erwartungsvoll an.
"Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist blau." Dieses mal zeigte ich direkt auf etwas Blaues, um das Verstehen zu erleichtern. "Blau", sagte die Mutter. Alle riefen durcheinander, die Kinder hüpften im Raum herum und innerhalb kürzester Zeit hatten sie die blaue Reispackung gefunden. Der Junge stand vor mir und strahlte: "Sedunihsi. Das." Er zeigte auf ein gelbes Heft. "Gelb?" fragte ich und er nickte. Ich stand auf und lief mit dem Mädchen um die Wette. Immer wenn wir falsch rieten, lachte er laut und schüttelte den Kopf. Die Eltern riefen uns zu und zeigten auf gelbe Gegenstände, die auf die wir zeigten und den Jungen fragend ansahen. Schließlich fanden wir den gelben Stift, der in seiner Schulmappe auf dem Boden lag.
Nach ihm war die Mutter dran. Dann der Vater. Schließlich war ich wieder an der Reihe und zum Schluss erneut die Kinder. Wir spielten lange. Dann zeigten die Kinder mir ein kurdisches Klatschspiel und ich wiederholte die Wörter dazu. Sie kicherten, wenn ich etwas falsch aussprach und wiederholten geduldig.
Ich ging schließlich. In mir blieb das wohlige Gefühl von gemeinsamer Freude.
Als ich das nächste Mal vor der Tür stand, öffnete der Junge und zog mich in die Wohnung und rief: "Sedunihsi. Das." Er zeigte auf etwas Weißes. Und dann spielten wir.