Zu Cordula Scheels Lyrikband 'Und fügst eine Stunde hinzu'

Zu Cordulas Scheels Lyrikband
„Und fügst eine Stunde hinzu“, Geest-Verlag 2019
Alfred Büngen

Warum eigentlich Lyrik in diesen Jahren?
Angesichts der Verkaufszahlen und des gesellschaftlichen Ansehens von Lyrik eine mehr als berechtigte Frage. Buchhandel und Verlage beantworten diese Frage zumeist schon lange durch Ignoranz der Lyrik. Nicht wenige moderne Lyriker geben Antwort durch das Eintauchen in eine ‚akademische Glockenlyrik‘, die den Leser weitgehend ausschließt. Unzählige gut gemeinte Schreibkreise, Schreibaktionen Und Internetseiten verhelfen auf der anderen Seite einer häufig nichtssagenden ‚Blümchenlyrik‘ zu unzählbaren Publikationen und selbstgefälligen Nichtigkeiten.
Doch daneben, sollte man das nicht übersehen, gibt es weiterhin eine kleine, aber doch hör- und aufnahmebereite Gruppe von Menschen, denen Lyrik eine besondere Form der Erkenntnis und Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart bietet, Schreibern und Lesern gleicher¬maßen. Lyrik ist ihnen Emotionalität und Rationalität des Menschen, ist ‚bildliche Philosophie‘ zur eigenen Reflexion, ist diskursiver Anlass, ist sprachlich vermittelte Aufarbeitung und zugleich Vermittlung von Identität.
Gedichte sind, wie Cordula Scheel in ihrem neuen Gedichtband „Und fügst eine Stunde hinzu“ schreibt:
Erinnerungen langer Tage
gegen den Verdacht
das Leben sei sinnlos (S. 74)

Gedichte sind also Möglichkeiten der Reflexion individueller und gesellschaftlicher Erinnerung. Sie sind humanes Kapital der Menschheit, aber niemals Wirtschaftsmethode, sind keine Wissensanhäufungsinstanz, vielmehr Anlass und Auslöser eigenen Denkens und Fühlens.
Cordula Scheels neuer Gedichtband „Und fügst eine Stunde hinzu“ ist in einem solchen Zusammenhang  ein ganz besonderer Band geworden.
Nicht nur, dass sie im Gefüge der Herausgabe dieses Bandes von der Hamburger Autorenvereinigung mit dem Lyrikpreis 2019 geehrt wurde. Zudem feierte sie an einem Tag eine Buchpremiere, an dem nur einen Tag zuvor 70.000 junge Hamburger auf die Straße gingen, um uns aufmerksam zu machen auf die Gefährdung unserer Existenz. Und nicht anderes macht auch Cordula Scheel. Ihr Band ist eine Auseinandersetzung auf höchsten Niveau mit menschlicher Existenz, mit Reflexion eigenen Lebens. In Verwebung mit den Mythen der griechischen Geschichte, mit literarischen Zeilen von Rilke bis Kästner breitet sie das Empfinden über das Leben von Generationen aus, insbesondere einer Generation die Flucht, Vertreibung, Bomben und Vernichtung allen Lebens um einer Ideologie willen erlebt hat. Ihre Gedichte werden zu einem Monument eindringlicher Erinnerung, jedes Wort sorgfältig gewählt und gesetzt. Arno Surminski äußert zurecht in seinem Nachwort: Eine Besonderheit sind die Schilderungen des Kriegsendes 1944/45: Bomben, Feuer, Flucht sind schon viel beschrieben worden, aber noch nie so eindringlich in lyrischer Form wie in diesem Buch.(S..79)
Cordula Scheel versucht uns allen diesen Schrecken der Vernichtung als Mahnmal hinzustellen, ohne uns dabei die Antwort auf die Frage zu geben: Wie soll denn unser Leben weiter verlaufen. Wie schreibt sie so wunderschön – und gibt damit eine Antwort auf die Frage nach der Aufgabe der Lyrik wie sie nicht besser hätte gegen werden können:

Schlüsselkinder wir alle
du und ich ausgesetzt
ins Leben
verborgen der Schlüssel


verloren (S. 62)
Nein, Cordula Scheel gibt uns keine direkte Antwort, so einfach macht sie es uns nicht.
Sie gibt uns die Suche an die Hand, die Suche nach dem verlorenen Schlüssel unseres Menschseins.
Und sie ist dabei von einem Optimismus gezeichnet, dass diese Suche erfolgreich sein kann. das
Raum bleibt für unser ‚Mensch sein‘
Wolken und Wellen
flirrende Aufbrüche
Formen so dicht so nah
Reflexe wandern über Bilder
etwas gelingt
schöner als zuvor
Möglichkeiten
ausgesetzt in Ebbe und Flut (s.60)

Jede Zeile, jede Strophe ihrer Gedichte erhebt sich zu einer ästhetischen Schönheit, oftmals von einer melancholischen Sehnsucht durchzogen, die die Schönheit menschlicher Existenz ohne Gewalt, ohne Krieg, ohne Hass und Neid ahnen lässt und/oder emotional vorwegnimmt:
Schattenriss der Bäume
die Vogelrufe
verlieren sich in uns
im still gewordenen Wasser
die Kiesel

Doch ist das alles erreichbar, die Schönheit menschlicher Existenz ohne Krieg, Hass und Vernichtung? Nein, Cordula Scheel gibt keine Antworten, ermuntert uns zum Handeln, doch bleibt ein zutiefst verankerter Optimismus auf die Natur
Kein Anfang ist euer
keine Zukunft
aber
die Vögel werden bleiben und singen