Zum Gedenken an Ursula Fricke - „UND WEIL DIE IMMER LUSTIG SIND, WÄR’ AUCH ICH EIN FRÖHLICH KIND“

„UND WEIL DIE IMMER LUSTIG SIND, WÄR’ AUCH ICH EIN FRÖHLICH KIND“

 

Zum Gedenken an Ursula Fricke, die heute in Gummersbach beigesetzt wird

„Wie sollen junge Menschen wieder Freude am Leben bekommen, wenn man sie ihnen nicht vorlebt?“, fragt Ursula Fricke, als sie in jungen Jahren die unmenschliche Behandlung von Fürsorgezöglingen in einem Jugendwerkhof der DDR erlebt.

Eine charakteristische Aussage für die Autorin, Malerin, Pädagogin, Mutter, Großmutter und Ehefrau Ursula Fricke, die, 1926 in Gera geboren, im Laufe ihres Lebens die verschiedenen Systeme Deutschlands erlebt hat: den NS-Staat, die Aufbaujahre der DDR, die Bundesrepublik nach Verlassen der DDR und schließlich das wiedervereinigte Deutschland.

Und nach all diesen sehr unterschiedlichen persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen legte sie nun noch vor einigen Wochen einen Band mit Gedichten und biografischen Erzählungen vor, der genau diesen Kernsatz ihres Fühlens und Denkens noch einmal betont: Die Lebensfreude von jungen Menschen entwickelt sich über das Vorleben der Erwachsenen. Und wenn Erwachsene die Funktion des Vorlebens, aus welchen Gründen auch immer, nicht oder nur unzureichend erfüllen, kommt der Literatur die Aufgabe zu, diese fiktional zu vermitteln.

Genau das gelingt den Gedichten und biografischen Erinnerungen von Ursula Fricke wie auch ihren Zeichnungen in diesem Band in einer Harmonie, die besticht. Die Autorin nimmt die Literatur in die Pflicht. Wie in ihren bisherigen Bänden ‚Der große Zauberer‘, ‚Meine Ferien mit Rosso‘, ‚Mondgeschichten‘ und ‚Ferienkids aus aller Welt‘ stellt sie die Entwicklung kindlicher Identität in den Mittelpunkt ihres Schreibens. An kleinen Ereignissen, die Kinder und auch Erwachsene in dieser oder ähnlicher Form alle bereits irgendwie einmal erlebt haben, verdeutlicht sie, wie sich Normen und Werte ausprägen. Zentrale Problemstellungen sind dabei das Erleben von Gewalt, das Streben nach Besitz, der Umgang miteinander – insbesondere der mit Schwächeren, Ausgegrenzten und Behinderten, aber auch das Entdecken von Natur, genauer gesagt, das Entdecken der Natur als Quelle eigener Lebensfreude.

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die biografischen Beiträge von Ursula Fricke über ihre Arbeit in den Jugendjahren während des Dritten Reiches und danach in den Gründungsjahren der DDR, so begegnen wir genau diesen zentralen Fragestellungen wieder. In ihrer pädagogischen Tätigkeit verschreibt sie sich der Arbeit für die Ausgegrenzten, für Waisenkinder, sozial Benachteiligte etc. Dabei geht sie, im offensichtlichen Widerspruch zu staatlichen Institutionen und anderen Pädagogen, davon aus, dass in jedem Kind ein humaner Kern vorhanden ist, den es zu entdecken, zu fördern und zu erhalten gilt. Mit heutigen Begrifflichkeiten ausgedrückt: Es ist ihre erklärte Absicht, Kinder stark zu machen, ihnen eine Identität zu vermitteln, mittels derer sie ein positiv geprägtes Miteinander entwickeln können.

Damit erklärt sich die Stärke der in ihren Gedichten beschriebenen Figuren. Alle Handelnden im Schreiben der Autorin vollziehen eine positive Entwicklung, gewinnen an Erkenntnis, die sie fortan zu einem anderen Denken und Fühlen veranlasst, ganz gleich, ob sie Erwachsene oder Kinder sind. Dabei wird die Autorin keinesfalls belehrend oder gar moralisierend. Vielmehr entwickelt sie das positive Handeln aus dem heraus, was sie erzählt und beschreibt. Sie lässt uns als Leser erleben, dass positives, starkes Handeln ein Lebensgefühl entwickelt, das für den Handelnden selbst, für die Mithandelnden und für den Leser ein besseres, zufriedeneres Lebensgefühl schafft. Wenn man will, kann man daher die Gedichte und Erzählungen als kleine Parabeln des Glücks verstehen.

Ähnlich ist es mit den Zeichnungen von Ursula Fricke und ihrer Art der künstlerischen Gestaltung: Die schlichten, stets nur mit sanften Farben versehenen Bilder besitzen eine so intensiv positive Ausstrahlung, dass man sich ihrem Charme, ihrer Liebenswürdigkeit, nicht entziehen kann. Jede grelle Farbe, jede fotografische Genauigkeit der Zeichnung würde die Emotionalität des Harmonischen zerstören.
Auf ein besonderes Element des Schreibens und des pädagogischen Wirkens von Ursula Fricke sei abschließend eingegangen. Wie ein roter Faden durchzieht ihr Wirken der Versuch, den Kindern geschützte Räume zu erkämpfen, sie von der äußeren gesellschaftlichen Gewalt fernzuhalten.

Bereits in ihrer Tätigkeit als Erzieherin in den letzten Kriegsjahren sieht sie sich gezwungen, die Kinder vor den Bomben zu schützen, schafft sie den Kindern in ihrem Kindergarten eine geborgene Zufluchtsstätte, die einen Gegenpol zur Gewaltwelt der Erwachsenen darstellt. Sie zieht alle anderen Kinder des Dorfes mit in den Schutz ein, bietet sogar der verfolgten Zwangsarbeiterin Schutz. Gleichwohl: Auch dieser geschützte Raum ist gefährdet. Der Apfelkuchen kann wegen der Bombardierung nicht gebacken werden.

Nicht anders ist es auch in DDR-Zeiten, wo sie in ihrem Kinderheim einen geborgenen Raum Schutz und Zuflucht für Kinder bietet. Immer wieder empfindet sie Unbehagen, wenn Erwachsene als Gäste in diese Räume einziehen, deren Besonderheit nicht zu würdigen wissen. Und in diesem geschützten Raum, das ist an vielen Stellen in ihren Erinnerungen nachzulesen, bietet sie das Schreiben, das Malen, das Theater etc. als Möglichkeit an, damit die Kinder eine fiktionale positive Welt erleben, die einen Gegenpol zur gewalt- und machtorientierten Erwachsenenwelt darstellt.

Wie gut, dass es solche Autorinnen gibt, die bis an ihr viel zu frühes Lebensende ungebrochen an die humanitäre Substanz des Menschen glauben, die den Mut haben, die Wirkung positiven Erlebens im Gedicht und in ihren Geschichten zu zeigen. Auch wenn sie sich dabei vielleicht manchmal als Clown in dieser Gesellschaft fühlen, der darauf hofft, dass sich die Welt eines Tages ein Stück weit dreht!

Alfred Büngen, Verleger