Rahn, Heinrich: Der Jukagire


EINE UNGLAUBLICHE LIEBESGESCHICHTE
Heinrich Rahns Roman ‚Der Jukagire’
Geest-Verlag, Vechta-Langförden, 2008
ISBN 978-3-86685-134-4
267 S., 12,50 Euro

Der bis dahin selbst in der russlanddeutschen Literaturszene fast völlig unbekannte Autor Heinrich Rahn legt einen bemerkenswerten Roman vor. Das Schicksal eines Russlanddeutschen auf eine ganz andere, eine abenteuerliche, ungewöhnliche, faszinierende Art und Weise erzählt – das ist neu in der russlanddeutschen Literatur und erweckt Interesse.
„Ein ungewöhnlicher Roman, voll Abenteuer, eingebettet in die tragische Geschichte der Russlanddeutschen und in den gesamten sowjetischen Kosmos mit all seinen politischen und ideologischen Abgründen. Eine unglaubliche Geschichte. Kaum fängt man an, das Buch zu lesen, gerät man in einen starken Sog und kann nicht loslassen, ehe man es zu Ende gelesen hat. Wenigstens mir erging es so: Ich begann am späten Abend und verschlang es gegen Mitternacht. So was ist mir schon lange nicht mehr passiert …“, schreibt der in der russlanddeutschen Literatur beheimatete und anerkannte Autor Wendelin Mangold.
Der Inhalt des Romans ist rasch erzählt. 1946 – zur Zeit der Diktatur Stalins wird der Waisenjunge Ivan Nickel in einem der staatlichen ‚Besserungs-Internate’ Ostsibiriens untergebracht. Sein Vater, ein Russlanddeutscher, und seine Mutter, die von dem Nomadenvolk der Jukagiren abstammte, waren vom Staat ohne Erklärung verhaftet und umgebracht worden.
Von Anfang an wehrt sich Ivan gegen die totalitäre Erziehung des Waisenhauses. Seine Gedanken kann er nur mit Marischa, der Tochter des Försters, teilen, zu der eine junge Liebe entsteht. Doch bevor sie reifen kann, wird Ivan durch zweifelhafte Umstände in ein Straflager versetzt. Dort herrschen unmenschliche Bedingungen, die die meisten Häftlinge nach kurzer Zeit zur Erschöpfung und in den Tod treiben. Doch Ivan ist zäh und will die Hoffnung auf ein freies Leben nicht aufgeben ¬ uns so flieht er mit einigen Verbündeten. Es beginnen die langen Jahre der Flucht durch die Taiga, die von Hunger und Angst begleitet werden.
Doch mit seiner Odyssee durch die Taiga beginnt zugleich auch ein unaufhaltsamer gesellschaftlicher Aufstieg, der durch die veränderten politischen Verhältnisse gegenüber den Russlanddeutschen möglich wurde. Er findet wirkliche Freunde und gründet sogar eine Familie. Doch da bleibt Marischa, die nicht aus seinem Unterbewusstsein weicht. Als die beiden sich wiedersehen, überschlagen sich die Ereignisse.
Rahn gelingt es in seinem Roman, Naturschilderung, abenteuerliche Handlungsführung und mystisches Geschehen zu vereinigen. Hervorzuheben ist insbesondere auch seine sprachliche Leistung, die aus dem Bereich der russlanddeutschen Literatur hervorsticht.
Ein Roman, der auch in der bundesdeutschen Leserschaft seine Liebhaber findet wird.
 

Heinrich Rahn, 1943 in der Ukraine in einer deutschen Familie geboren.
Nach dem Krieg nach Nordsibirien deportiert, dann nach Kasachstan. Seit
1990 in Deutsch­land. Bis 2001 als Bauingenieur gearbeitet, jetzt im
Ruhestand, lebt in Wiesbaden.
Zahlreiche Einzelveröffentlichungen.

 

 

 

Kapitel 1

 

Wenn ein Mensch unglücklich ist, dann hat man verschie­dene
Möglichkeiten, ihm das Glück nahezubringen. Falls er sich jedoch verweigert,
sollte man diese Person, die wahr­scheinlich an einem Mangel an Einsicht
leidet, einfach zum Glücksgefühl zwingen.

Doch aus welchem
Grund sollte man sich überhaupt da­rum bemühen, einen Menschen zum Glück zu
zwingen? Dies liegt klar auf der Hand! Wenn dieses Individuum die Mit­menschen
mit seinem pessimistischen Verhalten ansteckt, könnte sehr bald das gesamte
Volk unglücklich werden! Solch eine Bedrohung sollte man auf jeden Fall zum ‚Wohle
des Volkes' stoppen! Der Außenseiter muss auf jeden Fall zur Besinnung gebracht
werden, sodass er den Anschluss an das große, kollektive Glück findet. Erst
dann kann er unbefangen mit den anderen Gesinnungsge­nossen Schulter an Schulter
in eine klar umrissene Zukunft marschieren ...

Es erscheint unlogisch, dass jemand diesem Glück nicht
folgen will. Bedauerlich für diese Person! Denn: Wer nicht mitmacht, der ist
gegen uns. Und wer gegen uns ist, der hat sich automatisch zum Volksfeind
erklärt. Deshalb muss derjenige, falls er ein junger Mensch ist, in ein
Erziehungs­lager, und wenn er erwachsen geworden ist, ins Straflager. Dort kann
er sich in die richtige Richtung entfalten und zum Wohle des Volkes beitragen, indem er gut arbeitet. Wenn
jedoch jemand diese Prüfung aus gesundheitlichen Grün­den nicht besteht, liegt
das wahrscheinlich an seinem man­gelnden
ideologischen Niveau.

Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Genosse Ser­gejew,
der Leiter des Sonderwaisenhauses. Diese Einrich­tung befand sich im ostsibirischen Dorf Ajum und war
eigens für schwer erziehbare Jugendliche eingerichtet wor­den. Sergejew war ein
kluger und hochgebildeter Mann und stets stolz darauf, als Oberhaupt dieser
Institution für die Erziehung der Waisenkinder Sorge tragen zu dürfen. Die
Eltern der Waisen waren im Namen des Volkes als Feinde verurteilt und in
verschiedene Straflager geschickt worden. Von dort aus hatten sie keine Möglichkeit, eine Nachricht zu versenden. Sie waren also so gut wie tot, und ihre
Rückkehr war im Regelfall ausgeschlossen. Als Erzie­hungsberechtigter fühlte
sich Genosse Sergejew verant­wortlich für die fehlerfreie kommunistische
Schulung der Abkömmlinge jener Verbrecher. Die Kinder sollten wissen, dass ihre
Eltern frevelhafte Taten vollbracht hatten und sollten sich für sie schämen. Es
war wichtig, die jungen Seelen auf den richtigen Weg zu führen.

Genosse Sergejew stand auf, zog seinen Feldrock zurecht,
ging zum Fenster und öffnete es. Fleckenweise lag noch Schnee, aber die
Weidensträucher trieben schon weiche Kätzchen aus. Vor zwei Jahren, Ende 1945,
als er noch der politische Führer einer Militäreinheit gewesen war, wurde er vom
Gebietskomitee nach Ostsibirien abkomman­diert. Das Komitee hielt ihn für eine
Stelle als Schulleiter in einem Waisenhaus für besonders geeignet, da er vor
dem Krieg eine pädagogische Hochschule in Nowo­sibirsk absol­viert hatte.

Dort, in dem abgelegenen Dorf Ajum, in der Tiefe der Tai­ga,
glaubte der überzeugte Kommunist seine Berufung ge­funden zu haben. Sein Schulinternat für Waisen war mehr als
bescheiden. Umso mehr war die neue Führungskraft um die einwandfreie Ausbildung der Kinder, um ihre kör­perliche und seelische Gesundheit besorgt. Die Jungen
und Mädchen, es waren nur Jugendliche ab 15 Jahren hier untergebracht,
besuchten einen Unterricht, in dem sie um­fangreiche Kenntnisse in allen
Fachbereichen erwarben. Sie machten gute Fortschritte, da die Disziplin streng
war. Jeder Schritt und Tritt wurde beaufsichtigt. An Sport­lehrgängen mangelte
es auch nicht, da es Pflicht war, die Körperkraft zu pflegen. Ganz nach dem
alten Prinzip: Nur in einem gesun­den Körper wohnt ein gesunder Geist! An
Wochen­enden wurde den Schülern nahegelegt, sich im Club sowjetische Filme anzusehen
oder Bücher in der Bibliothek zu lesen. Dort gab es neben den Werken aktueller sowjetischer
Auto­ren auch eine umfangreiche Auswahl russischer und ausge­wählter westlicher
Klassiker. Außerdem fanden oft Ver­sammlungen der kommunistischen Jugend, der
Komsomol­zen, statt. Dort wurden die morali­schen Probleme der Zög­linge besprochen
und kritisch analysiert. Dies alles unterlag natürlich den Richtlinien der
Partei. Falls es bei dem einen oder anderen Teilnehmer Schwierigkeiten gab,
wurde dies öffentlich besprochen und beurteilt. Bei Härtefällen wurde der Schuldige sogar vor die Schulleitung
geführt.

Auch heute erwartete Genosse Sergejew einen Zögling, der
sich nicht der Schulordnung fügen wollte und sogar Sprüche wider die
sowjetische Ordnung gemacht hatte.

Artikelnummer: 978-3-86685-134-4
12,50€inkl. MWSt.