08.06.2021 - aktueller Autor - Matthias Rürup

 

Grundlos sein



Als Kind hätte ich die Hexen in den Wolken beschwö-ren können. Für mich fingen die Wolken aber auch schon über Papa in den Rauchschwaden über der Eisenbahn an. Und ich dachte, dort oben flogen sie bestimmt mit ihren Besen zu Schlössern im Himmel, wo sie mit Drachen Tee trinken konnten.

Damals habe ich gerne hochgesehen. Wollte Hexenjä-ger werden, sie fangen und vermutlich wieder freilas-sen, so wie die Frösche um einen Teich herum, weil mich die Hexen sonst verfluchen würden. So stand ich früher oft in dem Nebel auf dem Berg, hörte das Knartschen des Schnees unter meinen kleinen Sohlen und konnte selbst nicht weiter sehen als bis zu Papas Ellenbogen. Immer habe ich versucht, ihm zu erklären, dass er bei einem solchen Wetter – es schneite wie verrückt – doch besser einen Helm tragen sollte. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, dass einer dieser Turbo-Besen ihm „in den Wolken“ ein Ohr abfahren könnte. Bestimmt können Hexen das Ohr eines Riesen ge-brauchen, so meine Schlussfolgerung. Aber die Woll-mütze war ihm doch lieber, und damals tat ich dann so, als würde ich schmollen und ließ mich weiterzie-hen, sodass meine kleinen Sohlen Spuren in den Schnee zogen.


Schade, dass ich den Schnee früher nie so zur Kennt-nis genommen habe. Ich denke, jetzt ist er weg und kommt nie wieder. Das Getümmel neben der Bahn verschluck¬te das Schneegestöber für fast jeden Vor-mittag des Winters, in dem ich von Hexen träumte. Er war unwichtig. Ich konnte nie verstehen, warum die Hexen sich in den Wolken versteckten. Meine Hexen flogen zu Schlössern, sie mussten wunderschön sein. Ich fand mich in mei¬nen Stiefeln und dem roten Man-tel auch ziemlich schön und ich wollte mich definitiv nicht verstecken. Also warum zeigten sie sich nicht?

Der Winter ging zu Ende. Und ich freute mich, dass ein Berg im Frühling keinen Schnee machte und der Re-gen den Nebel des Vormittags verschwinden ließ. Aber ich bemerkte, dass die Wolken über Papa hinaus-wuchsen und er den Regen von oben nicht angenehm fand. Also stand ich irgendwann ein letztes Mal auf dem Berg, ohne es zu wissen. Der Tag war durchnässt, aber klar. Doch das Einzige, was ich über Papa hin-wegfliegen se¬hen konnte, waren schwarze Vögel ge-wesen. Hoff¬nungsvoll redete ich mir ein, dass Hexen bei Regen nicht fliegen wollen, so wie Schmetterlinge. Vielleicht waren sie Winterschmetterlinge und über-nachteten in ihren Schlössern solange es regnete. Denn auch ich entdeckte für mich, dass Regen keine so schöne Sache ist.

Als wir an diesem letzten Tag wieder in die Bahn stie-gen, so wie jeden vergangenen Vormittag zuvor, saß unter dem Unterstand bei dem Infohäuschen eine hübsche junge Frau. Sie trug ein blaues, weites Kleid und feste Stiefel. Grinsend winkte sie mir mit der freien Hand zu. Ich wusste plötzlich, dass Hexen wirk-lich regenscheu sein mussten. Der Zug fuhr an, und gespannt freute ich mich auf den vermeintlich nächs-ten Tag und die Frau, die ich nie wieder treffen würde. Auch als es im Sommer nicht mehr regnete. Nie habe ich den Berg wieder be¬sucht.

Ich denke, der Regen hat damals nicht nur den Schnee, sondern auch die Hexen aus meinem Kopf geschwemmt. Und ich denke, ich gehe nicht zurück, um mich zu fragen, was mit all dem passiert ist. Mit dem Schnee, dem Frühling, den Hexen. Aber ich be-merke, dass ich, wenn es dort Winter wird, gerne nach oben schaue, um nach Flocken zu suchen. Vielleicht sind die Drachen ja noch da oben?

Matthias Rürup, Wuppertal
Trauerarbeit

Nicht du, gewiss nicht du, wirst trauern.
Dafür bist du zu stolz, zu stark, zu hart.
Kein bisschen Reue, kein Bedauern
Zeigst du in meiner Gegenwart.

Auch wenn: Das ist nur Oberfläche.
Doch die ist bei dir, ich weiß, sehr fest.
Ich weiß genau, wovon ich spreche,
Weil du auch sonst nichts gucken lässt.

So muss wohl ich es übernehmen,
Dich dazu leiten, dazu bringen,
Bei dir und deinem Leid zu sein,

Dass du dich der Gram, dem Grämen
Stellst, all den verdrängten Dingen –
Und so lass ich dich allein.

aus: Rette sich, wer kann. Geest-Verlag 2021



Matthias Rürup, Jahrgang 1972, publiziert sowohl erziehungs-wis¬senschaftliche als auch lyrische Arbeiten. Aufgewachsen in Halle an der Saale, lebt, arbeitet, dichtet und netzwerkt er heute in Wuppertal. Seine Gedichte veröffentlicht er in An-thologien, Zeitschriften oder online. Er betätigt sich als Orga-nisator von Autorengruppen, Textwerkstätten sowie bei der Herausgabe der Literaturzeitschrift neolith. Zuletzt von ihm erschienen ist der Lyrikband „Igel-Gesänge. Wie kann man nur lieben?“.