09.08.2018 - aktuelle Autorin - Ruža Kanitz

 

Ruža Kanitz

Sie wurde 1961 in Kroatien geboren. Nach Abschluss der Volksschule ging sie nach Slowenien, um in Koper eine Ausbildung als technische Zeichnerin zu absolvieren.
Durch ihren ersten Ehemann, einen Deutschen, kam sie 1982 nach Berlin, wo sie eine zweite Ausbildung als Finanzbuchhalterin absolvierte. Aus dieser Ehe stammt ihr in der Zwischenzeit 22jähriger Sohn. Seit 1996 ist sie in zweiter Ehe wieder mit einem Deutschen verheiratet.

 

 
Aus: Polenta oder Milchkaffee

Die jährlich wiederkehrende Sehnsucht nach der Familie und den Bergen war groß. Die nach dem kleinen rot¬haarigen Mädchen und den Tränen, die es vergossen hatte, auch. Es war wichtig, es zu loben und der Kleinen zu sagen, dass nichts umsonst war. Wichtig war, auf den Spuren ihrer Vergangenheit zu laufen, zu horchen, zu beobachten und zu staunen. Das Auto fuhr fast leise auf dieser sich schlängelnden, schmalen, asphaltierten Stra¬ße. Man wollte keinen wecken, keinen Fuchs, keinen Ha¬sen, keinen Bären …
Und jedes Mal fragte man sich, lebt wirklich jemand hinter diesen Bergen? Die Luft war so klar, so frisch, so rein; man hätte sie wirklich ‚mit dem Messer schneiden’ können, wie man in dieser Gegend sagen würde. Der Bu¬chenwald glitzerte in den letzten Sonnenstrahlen des Ta¬ges. Und wenn man nicht genau wüsste, wo man gerade ist, man könnte glatt denken, man wäre in einem Mär¬chenwald gelandet.
Die Fenster wurden heruntergedreht, die Luft wurde tief eingeatmet. Jeder Atemzug war verbunden mit Erinne¬rungen. Es überfiel einen eine leichte Übelkeit, der Ma¬gen zog sich zusammen, aber die Vorfreude war groß. Schon lange kannte ich nicht mehr die Namen der Be¬wohner in den Häusern mit den roten Dächern hinter den aneinandergereihten Pflaumenbäumen, die an der Straße standen. Alles sah so aus wie immer, so nah und doch so weit entfernt. Die vorbeikommenden Menschen wurden nicht erkannt oder es wurde geraten, wer das sein könnte. Von den jungen Leuten kannte man nur noch wenige.
Die Spitze des Kirchenturms zeichnete sich ab, wir fuh¬ren den Berg hinunter. Trotz Müdigkeit wurde alles genau betrachtet, aufgesogen. Auf der rechten Seite ein längliches Gebäude, die Schule. Acht Jahre hatte ich dort verbracht. Unzählige Prügeleien mit Mare, Schläge von den Lehrern wegen Kleinigkeiten, viele Vormittage ohne Frühstück, eingemummelt in diese dunkle Kutta mit viel zu großen, weißen Knöpfen. Für kurze Zeit beschlich mich Traurigkeit.
Maricas Haus lag auf der linken Seite. Wir fuhren aber jetzt noch nicht zu ihr, es war noch genügend Zeit. Ein Stück weiter der Friedhof, den man am Ende des Urlaubs in Gedanken besuchen würde. Und die Erinnerun¬gen prasselten auf einen ein, dass man sich nicht von ihnen befreien konnte. Man musste hineinspringen, wenigstens für kurze Zeit … Vater, Mare, Maka und so viele andere. Ich sah Mare als junges Mädchen von 15 Jahren, aufgeblüht und frühreif und schon verheiratet.
Der erste Mann hatte sich aufgehängt und der zweite war krank geworden. Die einzelnen Haare, die wir uns he¬rauszupften und zwischen den Fingernägeln festzogen, um zu sehen, ob sich die Haare kringelten – wer eines Tages in der Stadt wohnen und eine feine Stadtdame werden würde. Maka mit seinen großen Gänseeiern lebte jetzt mit Frau und Kindern in der Hauptstadt. Vater hatte ich schon lange nicht mehr auf dem Friedhof besucht. Ich schaute flüchtig auf die Gräber und wandte mein Gesicht schnell zur Seite. Da war ein Anflug von schlechtem Gewissen. Aber war das nicht ein gutes Zeichen, dass wir uns endlich vertrugen? Dieses Jahr musste ich es tun. Ich würde Vaters Grab besuchen, ihm Blumen bringen und wir würden lange, sehr lange reden.
Und noch einmal den Berg hinunter – der Magen zog sich stärker zusammen vor Aufregung; noch eine Kurve und noch eine, und da endlich, an der Ecke, stand nun nicht mehr das Hexenhäuschen von teta Luce. Hier baute jetzt Neven, der älteste Sohn von Marica, das Haus für seine junge Familie. Und noch ein paar hundert Meter weiter stand das Haus von Ive.
Die Nerven waren angespannt, als das Auto zum Stehen kam. Die Dunkelheit brach schon an. Es war still, nichts bewegte sich. Leise stieg ich aus dem Wagen. Links von mir die Scheune, noch halbvoll mit Heu. Die Tür zum Schafstall war offen, und es klaffte eine seltsame Leere. Am Holzgitter hingen einige Wollbüschel, nicht mehr grau und nicht weiß. Kein Blöken war mehr zu hören. Aber der Geruch von den Schafen war noch da, und es sah aus, als würden sie noch irgendwo auf der Wiese grasen und könnten jederzeit zurückkommen. Ich schaute hinein. An den steinigen Wänden und an den Gittern, die an der Wand angebracht waren, in die man Heu stopfte, hingen noch vereinzelt Grashalme.
Unter dem Balken im Schafstall nisteten noch immer Schwalben. Die kleinen Schwalben schrien mit ihren aufgerissenen gelben Schnäbeln lautstark aus dem Nest. Ich schaute auf die Regenrinne gegenüber, wo das Schwal¬benweibchen saß, Futter im Schnabel hielt und unge¬duldig darauf wartete, dass ich endlich aus dem Stall gehen würde. Mein Blick wanderte zum Boden, wo noch deutlich kleine schwarze Kügelchen zu sehen waren. Ich nahm ein paar in die Hand. Sie sahen wirklich aus wie Schokoladenbonbons! Ich hatte tatsächlich damals eins probiert, als Ive mich dazu überredete ... Als Kind träum¬te ich ständig, dass ich die Schafe verloren hätte, irrte alleine durch die finsteren Wälder und hatte Angst vor Wölfen. Ich hörte die Glocken, und trotzdem sah ich die Schafe nicht.