09.10.2018 - aktueller Autor - Jürgen Waschek

Jürgen Waschek wurde 1945 in Bayreuth geboren, lebt und arbeitet in Oldenburg. Nach Abitur und Bundeswehr Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann, ehe er als Freier Dozent für verschiedene Bildungsträger unter anderem in den neuen Bundesländern arbeitete. Verstarb viel zu früh 2017.

 

Im Geest-Verlag erschienen: Jürgen Waschek: Dessauer Knallerbsen, daraus einen Auszug:

Es war ein wunderschöner, sonniger, viel zu warmer Tag im August 1990. Es war ein Sonntag, als hätten Tag und Sonnenwetter sich verabredet und sich die Hand gegeben. Martin Wolf war nun schon zweieinhalb Stunden unterwegs auf der Autobahn A 2 Richtung Osten. Er war gegen 14.00 Uhr in Oldenburg in Niedersachsen losgefahren. Sein alter Opel brummte zufrieden und bereitete keine Probleme. Im Autoradio spielten sie leise klassische Musik. Er hörte sie gerne, wenn er allein war.
Bis Hannover lief alles normal und er kam zügig voran. Ab Hannover nahm der Verkehr deutlich zu und es wurde beängstigend voll auf der Autobahn. Die ersten kleineren Staus verlangten seine volle Konzent-ration und ließen nicht zu, dass er sich intensiver mit dem beschäftigte, was vor ihm lag. Das sollte sich aber schneller ändern, als ihm lieb war. Kurz hinter der Autobahnabfahrt Königslutter erwischte es ihn.
„Stockender Verkehr bis Helmstedt“ meldete die Dame vom Verkehrsfunk mit freundlicher Stimme. Und keine fünf Minuten später sagte sie mit einer Stimme, die noch eine Spur freundlicher klang, dass es sich um einen richtigen Stau handelte.
Martin konnte schon die Warnlichter des Stauendes sehen. Also: Tempo drosseln, Warnblinkanlage einschalten, Stotter-Bremsung durchführen und in den Rückspiegel schauen, ob die nachfolgenden Autos ihn auch als Hindernis erkannten.
Alles im grünen Bereich! Die Autos hinter ihm wurden ebenfalls langsamer und die Fahrer schalteten ihre Warnblinkanlagen ein.
Dann erreichte er das Stauende. Er hielt an und stellte den Motor aus. Was wollte er eigentlich hier? Hier in einem Stau auf der A 2 kurz hinter Königslutter? Zudem an einem Sonntagnachmittag und das bei dieser Hitze? Was war eigentlich los?

Es war der Freitagnachmittag zwei Tage zuvor, der Martins Leben grundlegend verändern sollte. Er hatte gerade das Wochenende für sich eingeläutet. Der Liegestuhl war schon in dem idyllischen, etwas verwilderten Garten eines Grundstückes am Stadtrand von Oldenburg aufgestellt. Hier lebte Martin schon seit einigen Jahren allein in dem einfachen Flachdachbau auf dem Gelände einer Spedition, dessen Inhaber er sehr gut kannte und schätzte. Asta und Bessy, zwei Dalmatiner-Hündinnen, gaben ihm das Gefühl zwar allein, aber nicht einsam zu sein. Und am Wochenende war es in diesem kleinen Industriegebiet wunderbar ruhig und still.
Martin stand – wie immer nach getaner Arbeit – am Feuerlöschteich, um abzuschalten und beobachtete die Fische, die er schon vor Jahren selbst ausgesetzt hatte. Kuno und Elsa, zwei ausgewachsene, dicke, fette Karpfen hatten es ihm besonders angetan. Manchmal glaubte er fast, sie wollten Kontakt zu ihm aufnehmen, wenn sie sich majestätisch ruhig an der Wasseroberfläche bewegten und ihre großen Mäuler langsam öffneten und schlossen – immer wieder, als wollten sie ihm etwas aus ihrer geheimnisvollen Wasserwelt erzählen.
Martin freute sich schon. Gleich würde er den Einla-dungen des schönen, warmen Herbsttages und natürlich des Liegestuhls folgen, abschalten und die Ruhe genießen. Da klingelte das Telefon, unüberhörbar, schrill, laut, fast fordernd: „Komm schon, geh‘ ran, du musst mich doch hören!“ Es war Barbara, die pädagogische Leiterin einer gewerkschaftseigenen Bildungseinrichtung, für die Martin nun schon seit fast drei Jahren als selbstständiger Dozent arbeitete. Ohne Umschweife steuerte sie auf ihr Ziel los: „Martin, ich brauche dich!“
Bei Martin schrillten sofort die Alarmglocken. Der Zeitpunkt des Anrufes war schon sehr ungewöhnlich: Freitagnachmittag! Aber die Formulierung ‚Ich brauche dich!‘ war noch ungewöhnlicher. Martin musste um Unterrichtsstunden oder ganze Seminare bitten, manchmal auch kämpfen. Wenn eine pädagogische Leitung einen Dozenten brauchte, konnte es sich eigentlich nur um ein schwieriges, unangenehmes, besonders langweiliges
oder schlecht bezahltes Seminar handeln.
Martin ließ sich etwas Zeit. – „Hallo, Barbara, was ist los, um was geht es?“ Seiner Stimme konnte niemand anmerken, dass er vorsichtig und wachsam, aber auch ein wenig neugierig war. „Hallo, Martin, ich brauche dich für einen Kurs in der DDR.“ Sie wiederholte das Wort brauche wirklich! „Für wie lange?“, fragte Martin zurück. „Eine Woche!“ „Und wann?“ „Ab Montag!“