11. Juni 2018 - aktueller Autor - Günter Pilgrim


 


Günter Pilgrim

1931 in Mecklenburg-Vorpommern geboren, Abitur in Waren (Müritz), Studium in Rostock. Pastor in Boddin bei Teterow und in Parchim, Domprediger in Schwerin, Leiter der Evangelischen Akademie Mecklenburg. Seinen Ruhestand ver­brachte er in Rotenburg an der Wümme.
Seit 1995 veröffentlichte er zehn Bücher, wobei insbesondere ‚Die Ameisenstraße, 40 Jahre Pastor in der DDR‘ bundesweite Anerkennung fand.
Den vorliegenden Band im Geest-Verlag: ‚Wenn die Engel Überstunden machen‘, stellte der Autor noch vor seinem überraschenden Tod  im Jahre 2010 zusammen.

Günter Pilgrim

Wenn die Engel Überstunden machen

Erzählungen

Mit einem Epilog

von Felix Leibrock

Nachwort von Alfred Büngen

Geest-Verlag 2011

ISBN 978-3-86685-265-5                                              

10 Euro

 

Immer öfter bemerken wir, die Spaßgesellschaft hat sich als etwas zu dünn angerührt herausgestellt. Die Zeiten sind ernster geworden. Krisen und Probleme machen uns zu schaffen.
Und die Seele? Oft spüren wir, wie der Alltag sie gehörig abnutzt. Und es gibt Stunden, da ist uns selbst Watte zu hart. Und die Engel? Ob es sie gibt? Und wie hilfreich sind sie?

Die Erzählungen dieses Buches enthalten die Fragen: Was hält? Und was trägt im Leben? Dabei geht es um den Barlach-Engel im Güstrower Dom und seine geheimnisvolle Geschichte, um die Schutzengel, die uns beistehen, um die Engel des Lachens und auch um die Engel der Weihnacht mit ihrer mutmachenden Botschaft.

Ein optimistisches, ein hilfreiches Buch für die dunklen Stunden.

 

Das Versteck
Eine Geschichte um Ernst Barlachs Engel  (Auszug)


„Wir fahren in das Engeldorf, kommen Sie mit?“
„In das Engeldorf? Wie meinen Sie denn das?“ Ich musste lächeln. Engeldorf! So kann man es auch nennen!
Unsere Bekannten aus dem Nachbardorf waren am Telefon. „Ja, ja“, sagte er. „Engeldorf, Sie haben richtig gehört. Sie haben doch da-von erzählt, neulich bei unserm Zusammen-treffen, wissen Sie noch? Und dann haben wir gedacht, das machen wir sofort. Gute Pläne soll man nicht aufschieben.“ Unsere Bekannten waren fest entschlossen, die Stelle, wo der Engel einmal lag, zu suchen. „Muss ja zu finden sein“, sagte er. „Sie haben uns berichtet, dass der Engel in dem Dorf am Rand der Lü-neburger Heide über zehn Jahre vor den Nazis versteckt gewesen ist. Das hat uns brennend interessiert. Ist ja schließlich ein ganz prominenter Engel gewesen. Ein deutschlandweit bekannter Engel sozusagen. Na ja Sie wissen schon.“
Klar wusste ich. Ich wusste, um welchen Engel es sich handelte. Ich hatte öfter darüber gegrübelt. Wo mag diese Stelle gewesen sein? In den einschlägigen Berichten hieß es: „Ver-graben am Rand der Lüneburger Heide.“ Oder: „Versteckt auf einem Bauernhof in der Heide.“ Ziemlich allgemeine Angaben. Aber wo war die Stelle genau? Die Frage lag mir schon lange auf der Seele. Ich wollte dieses Engelversteck irgendwann finden. Als wir von Mecklenburg nach Rotenburg zogen, da wurde die Frage dringender. Jetzt war ich näher dran. Die Heide lag schließlich vor der Tür. Doch wo konnte das Versteck sein? Hinradeln? Die Gegend absuchen? Unsinn! Die Heide ist groß. Und die Angaben in den Sachbüchern waren viel zu vage. Aber ich musste das Versteck finden, irgendwie. Jetzt hatte ich Bundesgenos-sen. Kunstfreunde, die wie ich das Versteck ausfindig machen wollten. Ein gutes Zeichen. Nur ja nicht nachlassen.
Unser Bekannter war, so kann man sagen, ein Zeitungsmann. Er gab seit Jahren die Mo-natsbeilage einer Kreiszeitung heraus und war ein Kunstfreund. Er hatte Feuer gefangen. Das gefiel mir.
„Also, wann soll es losgehen? Ich bin dabei.“
Mir war der Engel, der über zehn Jahre in der Heide gewesen war, seit vielen Jahren ver-traut. Ich hatte in der Nähe von Güstrow, in Rostock, studiert. Ich war bei Güstrow auf meiner ersten Pfarrstelle gewesen. Immer mal wieder in jenen Jahren fuhren wir nach Güst-row in den Dom, wo der Engel seit 1952 wie-der seinen Platz hat. Der Güstrower Bildhauer Ernst Barlach hatte ihn geschaffen. Und 1927 war der Engel – oder ‚Der Schwebende’, wie er eigentlich hieß – im Dom aufgehängt worden als ein Mahnmal gegen den Krieg und als ein Zeichen der Trauer um die vielen Toten. Es war ein ungewöhnliches Kunstwerk. Sehr ge-wöhnungsbedürftig, zuerst heftig abgelehnt, aber je länger er hing, desto mehr anerkannt und von Besuchern aus der ganzen Welt auf-gesucht und geschätzt. Der Schwebende ist eine auf den ersten Blick klobige Bronzefigur, die schwebt. Das gibt es doch nicht, denkt man, eine Tonnenschwere schwebt! Was soll das? Das geht doch überhaupt nicht! Aber wenn man sich Zeit lässt, wenn man ausharrt und hinsieht, dann geht es einem auf. Die Trauer einer ganzen Generation ist eingefan-gen. Die Trauer, die das Herz schwer macht und nach unten zieht. Die erdrückt und er-starren lässt. Entsetzliche millionenfache Trauer. Wird sie den Menschen erschlagen? Das wird sie nicht. Auf geheimnisvolle Weise wird eine Botschaft deutlich: Hier gibt es et-was, das es nicht gibt! Man kann im Leid ge-halten werden. Man saust nicht in die Tiefe, man wird nicht zermalmt. In den Heiligen Schriften heißt es dazu: „Als die Sterbenden und siehe, wir leben. Als die, die nichts haben und doch alles haben.“ Es ist die Paradoxie der Gnade. Deshalb schweben die Tonnen-schweren, und sie tun das gegen alle Vernunft. Gnade ist stärker als Vernunft.
Zehn Jahre hatte Barlachs Engel im Güstrower Dom gehangen. Aber dann war eine Hetzkampagne der Nazis losgegangen, eine Kampagne ohne Maß, die größer und gefährlich wurde mit der Zeit und die mit einer Nacht- und Nebelaktion endete, in der der En-gel heruntergeschlagen wurde. Und bei dieser Aktion hatten Kirchenleute mitgemacht. Ein trauriges Kapitel. Wenn Politik die Kunst und die Kirche versklavt, dann ist Alarm geboten. Aber niemand schlug Alarm, damals. Willfährig waren sie, die Politiker und einige Kirchen-leute. Gott sei’s geklagt!
Der Domengel aus Bronze kam 1937 in ei-ner Kiste nach Schwerin. Er lagerte längere Zeit in einer Garage in der Bischofsstraße, die dem braunen Bischof Walter Schulz gehörte. Als ich später Dompfarrer in Schwerin war, da grenzte diese Garage an mein Pfarrhaus. Wie-der kam ich auf den Engel.
Aus der Garage wurde die Kiste, als der Bischof einmal auf Reisen war, von Nazischergen abgeholt, man kann auch sagen, einfach ge-klaut. Der Engel wurde kurzerhand und eilig für Kriegszwecke eingeschmolzen. Ein einmaliges Kunstwerk von Weltrang respektlos und seelenöde von politisch Verblendeten vernich-tet. Das Aus für den Engel?
Könnte man denken. Aber da kennt man die Engel schlecht. Ein Freund Barlachs hatte, erstaunlich umsichtig, heimlich nach dem Werk-modell in Berlin einen Zweitguss des Engels anfertigen lassen. Diesen zweiten Engel ließ er während des Krieges in die Lüneburger Heide bringen und dort verstecken. Es war eine le-bensgefährliche Geheimaktion. Sie konnte nur gutgehen, weil Barlach in dem Dorf, das wir in dieser Erzählung das ‚Engeldorf’ nennen, einen alten Freund hatte, auf den die Freunde Barlachs absolut verlässlich zählen konnten. Es war der Bildhauer und Maler Hugo Körtzinger. Er versteckte das Kunstwerk, gleichfalls unter lebensgefährlichen Umstän-den. So blieb der Engel erhalten. Wirklich eine dramatische Engelgeschichte! Wo aber war Körtzingers Versteck? Das wollte ich wissen.
An einem klaren Frühlingsmorgen zogen wir los. Vier Kunstfreunde auf Engel-Versteck-Er-kundung. Wir mussten das Dorf finden. Wir mussten Menschen in dem Dorf finden, die davon wussten, und wir mussten mit deren Hilfe das genaue Versteck finden. Ein fast aus-sichtsloses Unternehmen!
Im Jahr 1939 war der Engel in das Dorf ge-kommen.1952 hatte er das Heidedorf wieder verlassen. Wenn es im Dorf noch Zeit- und Au-genzeugen gab, dann mussten sie über achtzig sein. Wir studierten Landkarten. Wir wälzten Barlachbücher. Wir fragten bei Fachleuten nach. Erfolg: wenig oder nichts. Heide. Heide. Heide.
Durch einen Zufall fanden wir den Namen des betreffenden Dorfes. Endlich waren wir ein Stück vorangekommen. Aber, o weh, das be-sagte Dorf lag abseits von der lauten Welt, ver-steckt hinter Wäldern und zwischen weiter Moorlandschaft. Ein ideales Versteck, wirklich! Um die Mittagszeit erreichten wir das Dorf. Wir blieben stehen und sahen uns um. Das Engel-dorf. Wir hatten es gefunden. Diese Stille hier, erstaunlich! Dass es so etwas noch gab!
Am Rande des Dorfes Kirche und Pfarrhaus. Da konnten wir nachfragen. Pfarrer sind in der Regel geschichtsinteressiert.
Auf dem Pfarrhof Unmengen von Baumaterial. lm Pfarrhaus Handwerker bei der Arbeit. Klopfen, Mauern, Sägen. Ich störte die Hand-werker und fragte nach. Wer weiter will, muss Hürden nehmen, egal, ob es den Hürden ge-fällt.
„Wissen Sie, wo hier im Dorf der Bildhauer Hugo Körtzinger gewohnt hat?“
Der Säger stellte die Säge ab. Er wendete sich zu mir. „Hä, wat is los? Wat wollen Sie?“
Ich wiederholte mein Anliegen. Er sah mich an, mittelböse, als wollte er sagen: Und dafür störst du mich, du Vogel. Aber dann überlegte er doch.
„Körtzinger! Körtzinger! Ne, Männeken, kenn ick nich. Bin auch nich von hier. Arbeite hier bloß, vastehste!“
Hätte er das nicht gleich sagen können, dachte ich. Tut so großartig und überlegt erst noch. Ich schaue ihn ratlos an. Da lenkte er ein. „Vielleicht weeß unser Bauchef wat davon. Wohnt hier im Dorf, den könn se fragen.“
Erleichterung wollte bei mir aufkommen. Womöglich eine taugliche Spur.
„Und wo find ich den?“
„Ja, jetzt finden se den überhaupt nich. Der macht jetzt Mittag.“
Dussel, dachte ich, was verschwende ich hier meine Zeit.
„Na, denn Dankeschön und Tschüs!“, sagte ich und zog ab.
„Tschüs“, sagten die Handwerker und sahen mir belustigt hinterher, wie man seltsamen Vögeln hinterhersieht. Bildhauer, mögen sie ge-dacht haben, Bildhauer! Sucht hier in dem Kaff einen Bildhauer. Sachen gibt’s!
Wir suchten weiter, gingen um die Kirche herum. Da, eine Glocke. Mitten auf dem Kirchplatz! Eben angekommen? Sah so aus. Muss doch irgendwo ein Hinweis auf den Pfarrer zu finden sein. Nichts!
Gegenüber vom Kirchhof die Dorfgaststätte – Hoffnung keimte bei uns auf. Gaststätten sind Orte, wo Informationen feilgeboten werden. Aber leider, der Gasthof war geschlossen. Mein Mut sank auf den Nullpunkt ...