12. August 2017 - aktuelle Autorin - Iris Nepomuck

Iris Nepomuck,
geboren 1981, wuchs in einem kleinen Ort nahe der nieder­ländi­schen Gren­ze auf. Mit ihrem Ehe­mann und ihren beiden Kindern lebt die sportliche und naturverbundene Autorin auch heute noch in ihrem Heimatdorf.
Während der Schwangerschaft mit ihrem Sohn entdeckte die gelernte Rechtsfachwirtin das Schrei­ben für sich und verarbeitete in einer teils biografisch geprägten Geschichte die heute bewäl­tigte Le­benskrise und die Essstö­rung, von der sie als junge Frau betroffen war.

 

Iris Nepomuck

Kurvendiskussion

Ein Roman über Esstörungen

und den Weg zu sich selbst.

Geest-Verlag 2017 / 2. Auflage

 

daraus:

 

Ich bin 19 Jahre alt.
„Hey, alles in Ordnung, Julia? Mach bitte auf!“ Hastig drücke ich mehrmals die Toilettenspülung und schiebe mir zwei Minzkaugummis in den Mund. Im Spiegel funkeln mir meine Augen und Wangen verdächtig rot entgegen. Scheiße! „Ich komme sofort, ziehe mir nur noch schnell den Lippenstift nach!“ Ich fächere mir ein wenig Luft zu und werfe ängstlich einen Blick in die Kloschüssel. Kleine grüne und braune Bröckchen beinahe unkenntlichen Hackfleischs und Blattsalats schwimmen triumphierend an der Oberfläche, nach zwei weiteren Spülungen sind sie endlich verschwunden. Nur die kleinen Fettaugen, die mich höhnisch anstarren, erinnern an etwas Verbotenes. „Julia, wie lange dauert das denn noch? Ich muss auch mal!“ Ich schweige und ziehe meinen Lippenstift schlampig nach, während ich mit der anderen Hand das Fenster kippe. Dann öffne ich die Tür und schaue in die bohrenden Augen meines Freundes Manuel, der mich stumm zur Seite schiebt und im Bad verschwindet. Ich spüre, wie das Blut in meinem Kopf zirkuliert. Wie er mich angeschaut hat ... Was denkt er nur?
Eine gefühlte Ewigkeit später betritt er unsere Kü-che, in der ich einen Tick zu eifrig den Abwasch erle-dige. „Kleine, wir müssen reden!“ Zorn kriecht in mir auf, er soll mich doch einfach in Ruhe lassen. Scheinbar nichtsahnend halte ich seinem bohrenden Blick stand. „Was ist denn passiert? Worüber reden? Ich muss jetzt los. Wollte doch noch Einkaufen fahren, das wird sonst zeitlich wieder zu knapp, wir wollen doch später noch essen gehen!“ Ich trockne schnell meine Hände, nehme Jacke und Schlüssel vom Kü-chentisch und schiebe mich an ihm vorbei in den Flur. Doch er läuft mir nach und versperrt mir den Weg, als ich gerade die Wohnungs¬tür öffnen möchte. „Nein, Julia, du gehst jetzt nirgendwo hin.“ Er schiebt mich unsanft ins Wohnzimmer und ich traue mich nicht, diesem Riesen von 1,97 Meter Größe und 95 Kilogramm Gewicht zu widersprechen. Was ist nur los mit ihm? So ist er doch sonst nie.
Genervt lasse ich mich auf die Couch fallen und zwirbele meine langen dunklen Haarsträhnen zwi-schen den Fingern. Ich starre auf die Wand, auf das Großformatfoto, das mich leicht bekleidet zeigt. Manuel folgt meinem Blick. „Genau darum geht es! Wieso tust du das?“ „Wieso tue ich WAS? Fängst du jetzt schon wieder damit an, dass dir das Modeln nicht passt? Ich kann es nicht mehr hören. Deine scheiß Eifersucht kotzt mich an. Such dir doch ‘ne hässliche Freundin, wenn du DAMIT nicht leben kannst!“ Ich zeige auf das Foto, das mich so zeigt, wie ich zwar gerne wäre, aber niemals sein werde.
Die toughe, erotische Julia, die sich leicht bekleidet auf weißer Bettwäsche räkelt, mit einem kühl-unnahbaren Blick, ein Blick, der das Dauerlächeln meiner Kindheit boykottiert. Im realen Leben unmög-lich; in meiner Rolle als Fotomodel darf auch ich meine düstere photogeshopte Seite zeigen. Doch tough und cool? Ich Sensibelchen, die sich Gedanken macht über das Seelenheil einer Maus auf dem Weg in den Schlund der Katze? Ich, die sich ständig unzulänglich fühlt wegen meines absoluten Perfektionsstrebens?