12. Juni 2018 - aktuelle Autorin - Ruzia Kanitz


 

Sie wurde 1961 in Kroatien geboren. Nach Abschluss der Volksschule ging sie nach Slowenien, um in Koper eine Ausbildung als technische Zeichnerin zu absolvieren.
1982 kam sie nach Berlin, wo sie eine zweite Ausbildung als Finanzbuchhalterin absolvierte. In der Zwischenzeit hat sie zahlreiche Bücher verfasst, organisert und hält selber Lesungen.

im Geest-Verlag erschienen

Aus 'Schweigsame Ferne': Wie ein zappelnder Käfer


„Eins, zwei, drei – und jetzt!“, riefen die vier Mäd-chen einstimmig. Die Decke samt einer sich darin befindlichen alten Frau, die wie ein großer schwarzer Knäuel aussah, hob sich und landete anschließend unsanft auf einem grünen, von weiß-rosa Apfelblüten übersäten Polster. Ein leiser Wind schaukelte die Baumkrone und schüttete Blütenblätter über die Mädchen und die alte Frau unter dem Apfelbaum. Die Mädchen kicherten, als sie die aus der Decke heraus-gekullerte Tante Frani im Gras liegen sahen auf einer Wiese in dem kleinen Ort Klana, nur eine gute Stunde nordöstlich von Adria entfernt, zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
„Na wartet!“, zischte Frani durch ihre wenigen Zähne, die ihr noch geblieben waren. „Du, du Mara, du hast das alles geplant! Ich kenne dich … – dafür wirst du mir büßen!“ Wie ein Käfer lag sie neben der Decke und strampelte mit ihren knochigen, schneeweißen Beinen. Das schwarze Kleid flog hoch und man sah zwischen ihren Beinen ... gar nichts!
Verdutzt und peinlich berührt, kicherten die Mäd-chen vor sich hin. Sie waren gerade in den Jahren der Entwicklung, in der jede Körperlichkeit elektrisierte. Und schon ein nacktes Bein trieb ihnen die Schamröte ins Gesicht. Luce war mit ihren 14 Jahren schon zwei Jahre älter als die anderen. Bei Danica zeichneten sich bereits die sanften Rundungen einer Frau ab. Mara und Janja waren hingegen noch verspielte Mädchen. Vier Mädchen aus der Nachbar-schaft, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten.
Tante Franis schwarzes Kopftuch war verrutscht. Das hoch gewachsene grüne Gras verdeckte ihr Ge-sicht. Die Mädchen hörten auf zu lachen, als sie Fra-nis wütendes Gezeter vernahmen. Mara nahm die graue, mit kleinen Löchern übersäte Decke und faltete sie langsam zusammen.
„Das war aber ein Versehen“, sagten die Mädchen fast gleichzeitig, „dass du aus der Decke rausgeflogen bist, Tante Frani. Ehrlich!“
„Wieso hast du dich auch nicht festgehalten?“, schob Danica hinterher.
„Ja, du wolltest doch unbedingt, dass wir dich schaukeln, Tante Frani!“, ergänzte Janja, wobei die Schadenfreude in ihrer Stimme nicht zu überhören war. Luce versuchte währenddessen, die wütende Frani zu beruhigen, und streifte ein paar Grasreste und Blüten von ihrem Kopftuch ab. „Glaub uns doch, es war ein Unglück.“
Tante Frani war nicht zu beruhigen. Sie griff nach ihren Gehstock, den sie im Gras wiederentdeckt hatte, und versuchte, damit Mara zu erreichen. „Du hast das alles geplant, Mara, du …“, zeterte sie erneut los und fuchtelte mit dem Stock durch die Luft und rannte hinter Mara her, die das Weite suchte.
Mara wusste, dass sich Tante Frani wieder beruhi-gen und nicht bei den Eltern petzen würde. Welche Frau mit fast 60 Jahren lässt sich denn auch von vier kleinen Mädchen in einer Decke schaukeln? Sie erreichte auf der Flucht vor der zeternden Tante die nahe Hauptstraße, die Decke hatte sie unter den Arm geklemmt. Bald spürte sie, dass ihre Verfolgerin aufgegeben hatte, drehte sich zur Sicherheit aber noch einmal um. Tatsächlich, Tante Frani war umgekehrt. Sie stoppte ihre Flucht und warf die zusammengefaltete Decke ins Gras.
Nach einer Weile bückte sie sich und riss eine Lö-wenzahnblüte an einem langen Stiel ab. Den gelben Blütenkopf steckte sie sich hinters Ohr, den langen Blütenstiel brach sie in zwei Teile. Den dickeren Teil des Stiels steckte sie sich in den Mund. Dabei verzog sie das Gesicht und spuckte im hohen Bogen aus. Jetzt pustete sie, blies ihren Atem fest durch den Löwenzahnstiel. Tatsächlich, die Löwenzahnpfeife funktionierte! Immer wieder pustete sie und schaute dabei in die Richtung, wo sich das Missgeschick ereignet hatte. Die drei anderen Mädchen saßen zusammen mit Tante Frani unter dem Apfelbaum. An ihren Bewegungen und Gesten konnte sie erkennen, dass sie sich noch immer stritten.
Ihre Löwenzahnpfeife verlor derweil mehr und mehr an bitterem Geschmack, sodass sie nun nicht mehr ausspucken musste. Sie versuchte, mit der Pfeife Vögel nachzuahmen, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte.
Eine Männergestalt bog derweil mit einem voll be-packten Esel von der Hauptstraße ab in den schmalen privaten Weg zu dem Haus von Maras Familie. Wo noch vor zwei Jahren Angst und Tod herrschten, war dieses Bild eines auf den ersten Blick friedlichen frem-den Mannes, der in die Privatsphäre der Menschen eindrang, eine willkommene Abwechslung, die noch keinesfalls selbstverständlich war. Jeder neue Besuch löste bei den Kindern genauso wie bei den Erwachse-nen aufgrund der Kriegserfahrungen noch immer Sorge aus. Kamen die Besucher mit guter oder böser Absicht? Nichts war wie vor dem Krieg. Jeder wurde mit Misstrauen begutachtet.
Die Spucke flog samt Löwenzahnpfeife weit weg. Mara klemmte sich rasch die Decke wieder unter den Arm. Nun musste sie Tante Frani doch wieder unter die Augen treten. Da aber Besuch kam, würde die Tante den Vorfall mit der Decke schnell vergessen. So war sie nun einmal, die Tante Frani. Mal behielt sie alles ganz genau, was um sie herum geschah, und manches vergaß sie ganz schnell wieder. Mama hatte erzählt, mit ihr stimme etwas nicht, sie sei nicht richtig im Kopf. Darum lebe sie auch allein mit einer Kuh und ein paar Hühnern. Papa und Mama halfen ihr bei der Versorgung, so gut sie konnten.
Tante Frani hatte selbst keine Kinder, aber spielen konnte man mit ihr gut. Man konnte alles mit ihr ma-chen, wie sie zum Beispiel in einer Decke schaukeln. Die Eltern hatten ja zu so etwas keine Zeit, keine Lust oder waren ständig mit etwas anderem beschäftigt. 
Tante Frani hatte zudem viel zu erzählen, manchmal komische Geschichten und manchmal richtig wichtige und nützliche Dinge. „Mädchen, wenn ihr mal groß genug seid und einen Brief an einen Jungen schreiben wollt, dann macht ihr das so: Setzt euch als Erstes auf eine grüne Bank und nehmt dann den Stift in die rechte Hand.“
Maras erster Gedanke dazu war gewesen: ‚Wo fin-det man denn eine grüne Bank?‘ In der Schule waren alle holzfarben.
Tante Frani hatte weitererzählt: „Sjedem na jelovu klupu i uzmem pero u desnu ruku, da ti napišem jedan listak bijeli, da ti dragi srce razveseli.* Und am Ende des Briefes schreibt man: Vita jela zelen bor, molim brzi odgovor!**“
Woher wusste Tante Frani nur, wie man einen Lie-besbrief schreibt? Sie hatte doch nie geheiratet. War sie vielleicht mal verliebt gewesen?
Das war ihr Geheimnis.