12.07.2018 - aktuelle Autorin - Hildegard Kohnen

1934 in Duisburg geboren, kam, durch den Krieg bedingt, 1942 in die Eifel, lebte bis 1985 in Wittlich, heute in Brühl. Nach ihrer Berufstätigkeit begann sie erfolgreich zu schreiben (u.a. Wir vom Jahrgang 1934) und gewann verschiedee Literaturpreise.

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 
 
aus Hüpfsteine: Sommer 1942
   
Alarm. Sirenen heulten, Pfeifen, Brausen in der Luft. Mutter stand an meinem Bett und schüttelte mich. Es war eine sternenklare Nacht. Glühwürmchen leuchte-ten am Himmel. Schlaftrunken lief ich barfuß, die Schuhe in der Hand, hinter Lisa die Treppe hinunter in den Keller und schlüpfte, wie vorher oft geprobt, durch eine Öffnung in den Nachbarkeller, in dem sich bereits Leute befanden. Meine Mutter kam als Letzte. Wieder war dieser entsetzlich schrille Ton zu hören. Ein Mann drückte uns auf einen riesigen Kohlenberg und warf sich über uns. Sein Körper war schwer. Meine Schwester wimmerte: „Er drückt uns tot, er drückt uns tot!“ Dann war es vorbei. Verzweifelt suchten wir nach unserer Mutter. Das Haus schwankte, der Boden und die Wände bebten. Stöhnen, Krachen, Splittern, Staub, Schutt, berstende Mauern, splitterndes Glas. Hilfeschreie. Jemand betete laut das ‚Vater unser’. Plötzlich Stille, wattig und staubig, so still, dass ich mich atmen hörte. Ich schmeckte Kohlen. Wie schmecken Kohlen? Wie kann man ohne Stimme sprechen? Wir fanden Mutter. Sie kauerte auf dem Boden, ihre Arme bluteten. Lisa weinte, ich zog schniefend die Nase hoch. Keiner sprach, alle hatten Rußgesichter. Es wurde dunkel, ich fiel weich und tief. Dann waren da Stimmen. Sie kamen von draußen: „Keine Panik, ihr seid verschüttet, wir holen euch raus.“ Was heißt verschüttet? Wie kann man Menschen verschütten? Erneut die Stimmen: „Zuerst die Kinder!“ Jemand hob mich hoch und schob mich durchs Kellerfenster. Ich schrie tief im Bauch, keiner konnte es hören. Endlich im Freien. Immer noch war die Nacht sternenklar. Immer noch leuchteten flimmernde Punkte am Himmel.
Das waren keine Glühwürmchen. Jemand schrie: „Es brennt!“
Wo war Mutter, wo war Lisa, meine Schwester, wo war unser Haus und wo die Häuser in der Straße? Fremde Menschen liefen hin und her, redeten durcheinander, riefen, flüsterten, brüllten. Stimmen-gewirr. Ein Mann rief Namen auf. Mutter und Lisa fanden mich. Endlich. Meine Füße waren schwarz, die Schuhe hielt ich in der einen Hand, den Tornister in der anderen. Die Häuser ohne Vorderwände sahen wie Puppenstuben aus, wie Gespensterhäuser.
Wir liefen zum Werk. Vater hatte Nachtdienst. Mit zahlreichen anderen Menschen standen wir schwei-gend am Tor und warteten. Ich hielt Mutters Hand fest umklammert. Ihre Arme bluteten noch immer. Lisa war bei Nachbarn geblieben. Ein Mann kam vors Tor und verlas Namen. Jemand schrie plötzlich: „Feuer!“ Vier Gebäude brannten lichterloh. Mutters Fragen verstand ich nicht. Ihre Stimme zitterte. Ein Krankenwagen fuhr uns ins Krankenhaus. Mutters Arme erhielten Verbände, weiße Würste, die auf der rußigen Haut leuchteten. Ihr dunkles Haar hatte sich gelöst. Überall Verletzte, sie lagen im Treppenhaus, auf den Fluren und Fußböden. Alle hatten schwarze Gesichter. Mutter sprach sie an, nannte Vaters Namen. Schultern zuckten, keiner wusste was, keiner sagte was. Nur Stöhnen und Wimmern. Ärzte und Schwestern begegneten uns. In ihren weißen, blutbefleckten Kitteln sahen sie aus wie flatternde, blutende Engel. Wir wurden in den Keller geschickt.
Dort war es still, kalt und hell. Wir standen vor einer Tür. Das grelle Licht schmerzte in den Augen. Ich war müde, schlief fast im Stehen. Eine Ordensschwester wollte mich hinausführen. Ich sträubte mich, wollte bei meiner Mutter bleiben.
Wir öffneten eine Tür. Der kühle, dämmrige Raum hatte keine Fenster. An der Decke flackerte eine Glühlampe. Auf dem Boden lagen Menschen. Viele Menschen. Nebeneinander aufgereiht. Bewegungslos, ruhig und schwarz. Wir gingen an ihnen vorbei. Vater war der Letzte in der Reihe. Auch sein Gesicht war kohlenstaubig, die Augen geschlossen. Bestimmt schlief er. Nach dem Nachtdienst war er stets müde.
„Nicht wecken“, sagte ich. Mutter biss in ein Taschentuch und sagte: „Ich kann Vater nicht aufwe-cken.“
„Hat er Schmerzen?“, fragte ich.
Mutter beugte sich zu Vater und versuchte, mit dem Taschentuch sein Gesicht zu säubern. Tränen gruben graue Rinnsale in ihre Wangen und tropften auf meine Hand. Ich schleckte sie ab, schmeckte Salz und Kohlen, wie vorher auf meinen Lippen.
„Nein, Katharina“, flüsterte Mutter. Ihre Stimme klang anders als sonst. „Vater hat keine Schmerzen. Er hat nie mehr Schmerzen. Vater ist tot.“
Ich sah die bewegungslosen Menschen, meinen re-gungslosen Vater und fragte: „Mama, was ist tot?“ Sie antwortete nicht. Ich weinte, weil sie weinte, nicht weil Vater schlief. Ich war sieben Jahre alt und wusste nichts vom Tod.
Tage später. Wir saßen in der ersten Reihe. Ich hatte mich gegen schwarze Haarschleifen genauso gewehrt wie gegen die Fähnchen mit den Hakenkreuzen. Ir-gendwer drückte mir trotzdem eines in die Hand. Ich ließ es fallen.
Totenfeier für einundsiebzig Menschen, die durch Luftminen getötet worden waren. Eine Bergmannska-pelle spielte traurige Lieder. Die Musik brachte mich zum Weinen. Ein Mann in Uniform, umringt von vielen anderen Uniformierten, hielt eine Rede. Mein Vater sei ein Held, sagte er. Er habe sieben Arbeitskollegen gerettet, und wir sollten stolz auf ihn sein, sagte er auch.
Was war ein Held? Ich wollte keinen Helden, der tot war, sondern meinen Papa wiederhaben. Hinterher kam der Mann und reichte mir die Hand.
Ich schüttelte den Kopf, versteckte meine Hände auf dem Rücken und verknotete sie fest. Außerdem musste ich nötig, sehr nötig. Immer, wenn ich auf-geregt war, egal wo es war, musste ich aufs Klo.
Der Mann löste meine Hände und strich mir über den Kopf. Später sagten sie, der Führer habe mir die Hand gegeben. Das stimmte nicht. Er hatte sich meine genommen.