12.09.2018 - aktueller Autor - Moritz Rudolph

 

Moritz Rudolph wurde 1989 in Gotha (Thüringen) geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Geschichte, politische Ökonomie und Philosophie in Leipzig, Berlin, Paris, Brügge und Tübingen. Seit Oktober 2016 ist er Doktorand am Leipziger Institut für Politikwissenschaft.

Im Geest-Verlag erschienen

Rudolph, Moritz: Im Vorübergehen. Notizen aus Vechta

daraus:

Nachtschwärmerei

Es ist schon spät und ich bin noch munter, da will ich ein bisschen spazieren gehen. Ich werfe mir den Mantel über und gehe nach draußen, wo es, weil ich kurz vorm Wald wohne, stockfinster ist. Doch schon die nächste Straße ist hell; hell und leer. Tagsüber brausen hier die Autos über die Fahrbahn, jetzt aber regt sich nichts. Und so kann ich tun, was ich will: Steinekicken, Zickzackkurs, Schleifen oder Pirouetten drehen im Laternenschein, alles kein Problem. Keine Ampel verdirbt dir den Spaß. Kein Auto zwingt dich zurück in die Bahn des Fußgängers. In der Nacht kommt das Individuum, das tagsüber in der Menge verschwindet und an dröge Verkehrsregeln gebunden ist, ganz zu seinem Recht. Die leeren Straßen und die Lichter, die nur für es zu brennen scheinen, verhelfen ihm dazu.
Dass in der Nacht aber noch andere leben, zeigt sich schnell. In einem Schaufenster am Ende der Straße blinkt ein OPEN-Schilder in verschiedenen Farben. Ein Auto kommt um die Ecke geschossen. Ich wechsle auf den Bürgersteig, vergrabe die Hände in den Manteltaschen; die Zeit der Anarchie ist vorbei, ich bin nun wieder Bürger. Nicht einmal den Fußweg habe ich noch für mich allein, Gestalten kommen mir entgegen, ihre Gesichter erkenne ich nicht, nachts sind alle Menschen grau.
Ich folge dem sanften, aber doch merklich an-schwellenden Auto- und Menschenstrom, immer stadteinwärts. Hunger kommt, ein Döner soll ihn stil-len. Er trägt den Namen der Hauptstadt und schmeckt. Der Fernseher läuft im Hintergrund, ich kann dabei gut lesen. Dann wieder raus auf die Straße, es ist die Große Straße. Die Reste des Tages liegen an ihren Rändern. Sie wirkt matt und ausgelaugt, aber man darf sie nicht unterschätzen. Denn die Mächtekonstellation in Vechta ist so: Immer herrscht die Große Straße, nur ihre Allianzen wechseln. Tagsüber schließt sie ein Bündnis mit dem Bremer Tor, nachts eines mit der Münsterstraße. So bleibt sie stets an der Macht. Bei Einbruch der Dunkelheit verschiebt sich Vechtas Zentrum also nur ein Stück nach Süden. Alles ballt sich dann am Übergang von der Großen zur Münsterstraße. Hier befinden sich die wichtigsten Kneipen, sie sind gut gefüllt und ihr Einfluss reicht bis auf den Bürgersteig, wo sich das Ausgehvolk auch weit nach Mitternacht noch versammelt.
Ich bekomme Lust auf ein wenig Geselligkeit, ich will Gesichter sehen, nicht nur Gestalten. Der wichtigste Unterschied zwischen den Tageszeiten ist vielleicht: Dass man dazu tagsüber in ein Kaffeehaus geht, nachts aber in eine Kneipe. Also gehe ich in eine Kneipe. Man gibt mir Bier, man redet, ich rede auch, man raucht, ich rauche nicht, ich gehe irgendwann.
Es hat zu regnen begonnen, keine gespenstische Stille, der Regen ist wie ein Stimmengewirr. Er tanzt lustig durchs Rampenlicht der Laternen und genießt seinen Auftritt sichtlich, eitel ist auch er ein bisschen. Er prasselt auf den Asphalt und bringt ihn zum Glänzen, schwarz und golden. Es entstehen Pfützen, die wiede-rum Gesichter bilden und Fratzen. Sie sind überhaupt nicht unheimlich, sondern lustig. Sie lachen einen aus, wenn man die Nacht beunruhigend oder traurig und leer findet. Denn das ist sie gar nicht, die Nacht ist heiter.