13. Mai 2019 - aktueller Autor - Volker Issmer

 

Issmer,Dr. Volker - geb. 1943 in Glatz/Schlesien, veröffentlichte 1998 den
zweisprachigen Sammelband „Niederländer im Verdammten Land" sowie 2000 die
Dokumentation „Das Arbeitserziehungslager Ohrbeck bei Osnabrück", mit der er
2003 zum Dr. phil. promoviert wurde. Weitere Werke: „Als Mitläufer (Kategorie
IV) entnazifiziert. Die Memoiren meines Vaters" (2001), „Die Reise des Grals.
Aufzeichnungen eines Herbstes zwischen Ohrbeck und Tecklenburg" (2005), „Der
tolle Christian" (2006). Der in Osnabrück lebende Historiker und frühere Lehrer
ist Träger des Marion-Samuel-Preises 2002 der Stiftung Erinnerung. 2003 erhielt
er die Auszeichnung des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land e. V. und die
Ehrengabe der Stadt Georgsmarienhütte.

Veröffentlichungen

 
Ausschnitt aus einer Erzählung aus 'Fremde Zeit - Unsere Zeit'
Johann M.

„So, das ist erst mal genug!“, hörte er den Kommandanten sagen.
Sie ließen von ihm ab, wobei ihm einer zum Ab-schluss noch kräftig in die Rippen trat. Etwas zer-brach in ihm. Aber er spürte den Schmerz schon nicht mehr, weil er längst überall war.
Seit er in ihren Händen war, hatten sie ihn geschlagen. Am Morgen hatten sie ihn vor dem Ausrücken zur Arbeit aus dem Lager abgeholt. Schon dabei hatten sie ihn geschlagen, vor allen anderen. Dann hatten sie ihn ins Auto gezerrt und waren mit ihm zu dem großen düsteren Fabrikgebäude gefahren, das am Bahndamm stand. Er kannte es von den Gleisarbeiten her, und er wusste, dass die Gestapo dort ihre Verhafteten hinbrachte. „Pass bloß auf, dass du nie in den Augustaschacht kommst!“, hatte ihm einer gesagt, der schon länger da war und sich auskannte. „Da kommst du mehr tot als lebendig raus, wenn du überhaupt rauskommst.“ Und nun war er drin, im ‚Arbeitszuchtlager’, wie die Deutschen es nannten. Und wie es schien, traf alles zu, was der Kamerad berichtet hatte.
Der Kommandant hatte selbst nicht geschlagen. Das ließ er seine Männer machen – ukrainische ‚Hilfswilli-ge’, wie sie genannt wurden, die für die Deutschen arbeiteten und für ihre Brutalität berüchtigt waren. Sie zerrten ihn jetzt wieder hoch und setzten ihn auf einen Stuhl, in dem er zusammensackte. „Gebt ihm eine Dusche!“, hörte er den Kommandanten sagen. Einer der Wächter schüttete ihm Wasser ins Gesicht, und er kam wieder zu sich. Mühsam schob er den Rücken an der Lehne nach oben und sah zu dem Mann auf, der dicht vor ihm stand.
Der Kommandant war groß und schlank, wie er im Licht der Lampe erkennen konnte, die notdürftig den Raum erhellte. Er trug Uniform und Stiefel. Das Gesicht nahm er nur als einen hellen Fleck wahr. Viel mehr erkannte er nicht. Seine Augen waren fast zugeschwollen, die Brille hatten sie ihm schon auf dem Appellplatz zerschlagen.
„Also ein echter Holländer bist du nicht“, hörte er wieder den Kommandanten. „Das wissen wir ja nun immerhin. Du hast uns erzählt, dass du als Kind mit den Eltern ausgewandert bist. Und zwar aus Kassel. Das hast du uns ja schließlich gesagt, nachdem wir deinem Gedächtnis ein bisschen nachgeholfen haben.“
Die Stimme war sanft, fast gütig. Nach dem Gebrüll vorher tat es gut, ihr zuzuhören. Aber sein Denken war noch klar genug, dass er die Gefährlichkeit des anderen erkannte.
„Wir haben uns mal erlaubt, bei den Kollegen in Kassel nachzufragen. Das wirst du verstehen, wir müssen schließlich alles überprüfen. Das ist unser Beruf“, fuhr der Kommandant fort. Es klang wie eine Entschuldigung. „Aber nun stell dir vor, was wir da erfahren haben. Deine Mutter ist eine Judensau. Du bist also kein Holländer und ein Deutscher schon gar nicht, sondern ein Halbjude. Oder auch eine Judensau. Ist es bei euch nicht so, dass jemand mit einer jüdischen Mutter auch Jude ist? Antworte!“, bellte die Stimme plötzlich.
Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein unver-ständliches Gurgeln hervor. Dann hustete er das Blut, das sich in seinem Munde gesammelt hatte, auf den Boden.
Einer der Wächter sprang vor und erhob seinen Knüppel. Aber ein scharfer Befehl ließ den Mann zurücktreten. „So etwas tut man aber nicht“, wandte sich der Kommandant ihm wieder zu. „Du bist hier zu Gast, da spuckt man doch nicht auf den Boden. Und man spricht auch nicht schlecht über seine Gastgeber und wiegelt andere gegen sie auf, wie wir das von dir gehört haben. Hast du denn gemeint, wir kriegen das nicht heraus? Wir erfahren doch alles, früher oder später.“
„Ich habe niemanden aufgewiegelt“, flüsterte er, so-dass der Kommandant sich zu ihm herunterbeugen musste, um ihn zu verstehen. „Ich habe nur gesagt, dass das Essen zu wenig ist.“
„Er hat nur gesagt, dass das Essen zu wenig ist!“, wiederholte der Kommandant an seine Männer ge-richtet. Dabei veränderte er seine Stimme, als zitiere er ein kleines Kind, das etwas Komisches gesagt hat. Die Männer lachten. „Wollen wir ihm mal richtig das Maul stopfen, damit er endlich satt wird?“ Jetzt war die Stimme voll Hass. Die Männer grölten ihre Zustimmung. Dann verstummten sie plötzlich. Mit einer kurzen Kopfbewegung hatte der Kommandant sie zum Schweigen gebracht.
„Aber was sollen wir uns die Hände schmutzig ma-chen! Ich habe eine bessere Idee.“
Der Kommandant beugte sich so weit zu ihm herun-ter, dass sein Gesicht ganz nah vor dem seinen war. Er spürte den Atem des anderen, erkannte seine Augen, die Nase, die Lippen, die sich bewegten. Aber er konnte nicht zurückweichen. Hinter ihm war die Lehne des Stuhls.
„Ich sag dir jetzt mal, wie wir’s machen. Wir hängen einen Strick um den Balken da oben.“ Der Komman-dant wies in das Halbdunkel über sich. „Dann knüpfen wir eine Schlinge ans Ende. Und dann gehen wir raus, ich und meine Leute. Und wenn wir wiederkommen – sagen wir, in zehn Minuten –, dann hängst du an diesem Seil! Das geht ganz einfach. Du steigst auf den Stuhl, legst dir die Schlinge um und stößt den Stuhl unter dir weg. Um mehr musst du dich nicht kümmern, alles Weitere passiert von alleine. Wenn wir aber wiederkommen und du hängst nicht da, dann hängen dich meine Männer auf, und die werden sich ganz viel Zeit dafür nehmen. Ist es nicht so?“, wandte er sich wieder den anderen zu.
Sie johlten begeistert und machten sich ans Werk. Schließlich hatten sie ihre Vorbereitungen getroffen.
„Also, du weißt, was du zu tun hast.“
Mit diesen Worten verließ der Kommandant den Raum; seine Männer folgten. Der letzte schlug die schwere Metalltür scheppernd zu. Er hörte noch, wie sich die Stimmen und Schritte der Männer ent-fernten. Dann war er allein. Das Licht hatten sie angelassen .....