13.09.2021 - aktueller Autor - Wolfgang Asche

Wolfgang Asche, Hatten
Es stand ein Mann am Siegestor
(Erich Mühsam)

Es stand ein Mann am Siegestor,
der an ein Weib sein Herz verlor.
Schaut sich nach ihr die Augen aus,
in Händen einen Blumenstrauß.
Zwar ist dies nichts Besunderes.
Ich aber, ich bewunder es.


Drei Perspektiven
I.
Da stand dieser Mann, in den Händen einen Blumen-strauß. Vor dem großen Siegestor und sah doch so verloren aus.

Hatte er sich in der Zeit oder sogar im Datum vertan und die Frau würde heute gar nicht kommen?

Waren die Blumen frisch? Hielt er Ausschau? Noch immer?

Jeden Freitag kam er zur Siegessäule. Immer mit ei-nem frischen Blumenstrauß.

Den kaufte er immer im gleichen Blumengeschäft, und die kleine, zierliche Blumenverkäuferin fiel ihm nie auf. Sie merkte die Veränderung an ihm. Woche für Woche kam er nun und von strahlend und hoch aufgerichtet wurde er zum blassen und gebeugten Mann, immer noch jung, aber nicht mehr lebensfroh.

Nicht mehr verliebt. Nicht mehr hoffnungsfroh und voller Erwartung.
Nur noch trotzig. Nur noch verzagt.

Er wollte die Wirklichkeit nicht akzeptieren. Sie hatten es ihm gesagt, am Telefon, dass seine Braut ver-storben war. Auf der Fahrt zu ihm von einem Auto überfahren, in einem tragischen Moment.
Er konnte das nicht akzeptieren, der Schmerz wäre zu groß, würde ihn umbringen.

Er wartete. Auf sie.
Tagelang. Wochenlang. Monatelang.

Und auf einmal geschah das nicht für möglich Gehaltene. Das Mädchen aus dem Blumengeschäft, in dem er Freitag für Freitag seinen Strauß kaufte, hatte sich über ihn informiert.
Konnte sein stilles Leiden nicht länger ertragen und an diesem einen Freitag kam sie auf ihn zu.

Schritt für Schritt ging sie zu ihm, ihre Augen suchten seinen Blick, und endlich sah er sie an, erst durchblickend, dann wurde sein Blick klarer, Zweifel in seinen Augen. Kam sie wirklich auf ihn zu? Dann erkannte er sie, die junge Frau aus dem Blumenge-schäft, und nahm wahr, wie hübsch sie war. Sein Blick versank in ihrem und ohne ein Wort kam sie auf ihn zu. Endlich öffnete er die Arme und sie umarmte ihn. Er roch ihren blumigen, lebendigen Geruch, das Shampoo der frisch gewaschenen Haare und er sog den Geruch in sich auf.
Sie blickte auf zu ihm und er senkte seinen Kopf und sie begegneten sich. In einem Blick, in einem ersten zarten Kuss.

Bis seine Tränen liefen. Und ihre dazu. Und er nicht mehr wusste, ob er vor Trauer oder vor Glück weinte.

Aber es war auch egal. Sie war es, auf die er gewartet hatte, und sie fand in ihm ihr Gegenstück.

Warten lohnt sich. Immer.


II.
Sie wollte hin. Zu ihm.
Nur raus aus diesem Versagen, aus diesem tristen Grau. Sie wollte mehr. Nein, nicht gut, das reichte nicht. Es müsste schon besser sein.

Sie hatte ihn bei einem Messebesuch kennengelernt. Er war charmant, höflich und spendabel. Er ließ es sich etwas kosten, ihr zu beweisen, dass er sie moch-te. Übernahm alles, kaufte unnütze Kleinigkeiten, um ihr eine Freude zu bereiten, und ein Lächeln genügte ihm.

Jetzt war sie nach zwei Briefen gegenseitig und ei-nem Telefonat auf dem Weg zu ihm.

Nein, er war nicht ihr „Traummann“, aber in Ord-nung, mit einem sicherlich guten Einkommen, guten Manieren und einem ganz guten Aussehen. Kein Chef, ein guter, fleißiger Mitarbeiter eines Unter-nehmens, das auf der Messe ausgestellt hatte.

Und jetzt wollte sie ihre Chance ergreifen. Zu ihm. Bei ihm ankommen, ihn verwöhnen und mit ihm gemein-sam auf Partys und Feste gehen, um dort ihren wirklichen Mann fürs Leben, der erfolgreicher war und ihr ein Leben in gehobenen Kreisen bieten konnte, zu finden.

Ihr Elternhaus hatte ihr seit der Kindheit und, noch wichtiger, in der Pubertät keinen Schutz geboten; sie war ein Opfer sexueller Übergriffe von Onkel und Stiefvater geworden. Ihre Mutter hatte weggesehen und sie selbst hatte keine Kraft oder Hilfen, sich selbst aus ihrer Not zu befreien. Sie war einsam gewesen.

Heute gab es Menschen, die ihr rieten: „Mach doch etwas aus dir! Mach das Abi nach und studiere und ergreife einen Beruf, der dich ausfüllt und dir die Möglichkeit bietet, die Welt kennenzulernen.“

Sie hatte so viel verpasst; in der Schule hatte sie große Schwierigkeiten gehabt, und jetzt wollte sie keine Zeit mehr vergeuden. War das verwerflich? Ihr wäre es egal.
Auch wäre ihr der Weg zu lang gewesen. Sie wollte leben. Jetzt und gleich.

Und sie sah wirklich gut aus. In anderer Umgebung hätte sie Model werden können oder gar Starlet im Film. Doch diese Szene kannte sie nicht.

Aber über ihn würde ihr Weg nach oben führen, das fühlte sie. Und endlich diese kleinen grauen Gassen und Mauern hinter sich lassen, in denen sie geboren wurde. Dieser kleinbürgerliche Mief. Vielleicht ausrei-chend für viele, für sie nicht gut genug. Sie wollte mehr, ja, besser. Besser als gut.

Und sie lief mit ihrem Köfferchen über die Straßen Richtung Bahnhof, die letzte Querstraße vor ihr, und sie hörte Zugansagen und glaubte, ihr Zug würde einfahren. Jetzt musste es schnell gehen, um den Zug nicht zu verpassen.

Sie rannte ohne hinzusehen über die Straße auf den Bahnhof zu und die Fußgängerampel zeigte Rot.

Sie spürte wenig von dem Zusammenprall, ein kurzer Schmerz, als der Kopf auf die Motorhaube und da-nach auf dem harten Asphalt aufschlug.
Sie verstarb sofort.

Manche Träume gehen nie in Erfüllung.

III.
Er hatte es nicht eilig. Eigentlich richtete er sich langsam auf den Ruhestand ein, innerlich.
Jetzt war er seit fast dreißig Jahren im Außendienst unterwegs und hatte treu seine Kunden besucht und die Artikel seiner Firma angeboten.

Mit ganz gutem Erfolg. Ja, es waren sehr gute Jahre darunter gewesen, mit hohen Prämien, und seine Frau war glücklich und seine Freunde beneideten ihn um seinen Erfolg. Doch es hatte auch schlechte, ma-gere Jahre gegeben, in denen Prämien ganz ausfielen. Dann wurden Wünsche gestrichen, Urlaube ab-gesagt und anderes musste eben warten.

Er war im Großen und Ganzen zufrieden mit seinem Leben.

Auch privat keine großen „Katastrophen“, seine Frau hatte keine Affären, zumindest wusste er von keiner, und sie lebten ein ruhiges Leben, seit die Kinder das Haus verlassen hatten.
Er hatte auch nicht vor, sich zu trennen, und freute sich auf ruhige, beschauliche Jahre mit seiner Frau und auf die Freuden mit Enkelkindern.

Seine Gedanken hatten sich mit dem letzten Kunden beschäftigt und er fuhr gerade am Bahnhof vorbei, mit der „grünen Welle“, als erstes Fahrzeug der Ko-lonne, als plötzlich von rechts ein Mensch direkt auf die Straße lief, unmittelbar vor sein Auto. Er trat so-fort die Bremse bis zum Anschlag durch, mit ganzer Kraft, und drückte sich dabei gegen den Rücksitz, bis es schmerzte.

Keine Chance, den Unfall zu verhindern.

Es knallte zweimal. Einmal als die Frau, als solche hatte er sie erkannt, auf die Motorhaube, und ein zweites Mal, als sie hinter seinem Fahrzeug auf dem Boden aufschlug.

Trotz Schock sprang er aus dem Auto, lief nach hinten und beugte sich über die Frau, die mit verrenkten Gliedern und abgebogenem Kopf, unter dem sich Blut sammelte, auf dem Boden lag.

Ihre aufgerissenen gebrochenen Augen schauten in den trüben Himmel, auf den Lippen meinte er ein Lächeln erkannt zu haben, und gerade als er versuchen wollte, sie wiederzubeleben durch Mund-zu-Mund-Beatmung, zog ihn ein Mann zur Seite, der sich als Arzt vorstellte und die Frau untersuchte.

Bald heulten Sirenen auf, der Rettungswagen und die Polizei trafen ein.
Die Polizei nahm Angaben von Unfallzeugen auf und er wurde von einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht. Untersucht und mit einem Beruhi-gungsmittel versehen, konnte er es bald wieder mit Unterstützung seiner Frau verlassen.
Er wurde in allen Punkten entlastet, er sei nicht schuld an dem Unfall.
Und in den vorzeitigen Ruhestand geschickt.
Es brauchte viele Gespräche und Therapien, bis er wieder Auto fahren konnte.

Manches geschieht – einfach so.

(aus  'Mensch sein, ...' Anthologie zu den 8. Berner Bücherwochen)

Wolfgang Asche, Jahrgang 1955, geboren und auf-gewachsen in Düsseldorf; seit 1986 in Hatten lebend; Rentner, verheiratet, Kinder und Enkelkinder, Lesen und Schreiben halten mich jung. „Suche nicht das Spektakuläre in deinem Leben; lebe, das ist spektaku-lär genug.“