14. März 2018 - aktuelle Autorin - Marianne Brentzel


Brentzel, Marianne


Im Dezember 1943 wurde die Autorin in Erpen bei Dissen, einem "bombensicheren" Ort in Niedersachsen, geboren. Sie ist die Jüngste von fünf Geschwistern, wuchs in Bielefeld auf und machte 1964 am evangelische Mädchengymnasium Sarepta in Bethel Abitur.

Danach: Studium der Politischen Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut in Berlin mit Abschluß Diplom, später Zweitstudium Pädagogik und erstes Lehrerexamen, nahm aktiv an der Studentenbewegung teil und verdiente mein Geld mehrere Jahre als Arbeiterin in Berliner Großbetrieben. Später organisierte sie sich in einer der maoistischen Gruppen (KPD) und arbeitete seit dem Umzug nach Dortmund bis zur Auflösung der Organisation 1980 in deren Landesleitung.

Seit 1973 lebt sie mit ihrer Familie in Dortmund, ist mit Hugo Brentzel (Rechtsanwalt und Notar) verheiratet und hat zwei Kinder, Oliver, 1971 und Christina, 1978 geboren. Nach verschiedenen Jobs als Dozentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung und im Verlagsbereich ist sie seit einigen Jahren freiberufliche Autorin, ist Mitglied im Verein für Literatur, organisiert und moderiert den Dortmunder Bücherstreit.

 

Mehr zur Autorin unter:

http://www.mariannebrentzel.de

 

Vorwort aus: 1968- Bilanz eines Aufbruchs

Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.
Sören Aabye Kierkegaard

Das Jahr 1968 – nun 50 Jahre her – steht in der Ge-schichte der Bundesrepublik für das Ende der Nach-kriegszeit, für demokratischen Wandel, für den Bruch des Schweigens über die Verbrechen der Nazizeit, für die Möglichkeit, Veränderungen durch Teilhabe und Widerstand jedes Bürgers herbeiführen zu können. Es war eine Zeit, als viele, vor allem junge Menschen, das euphorisierende Gefühl hatten, ihnen gehöre die Welt und sie selbst könnten an ihrer Veränderung mitwir-ken.
Nicht Parteien haben den Wandel angestoßen. Es war eine anfangs studentisch geprägte Bewegung, die dann auch andere Teile der Jugend, Lehrlinge, junge Arbeiter und Angestellte, erfasste. Das Jahr 68 markiert aber auch den Beginn einer Reihe von dogmatisch den Mar-xismus-Leninismus propagierenden Kleinparteien und die Gründung der Roten Armee Fraktion (RAF) und ih-res Terrors.
Angesichts der Bedeutung dieses Jahres könnte es spannend sein, die Akteure dieses denkwürdigen Jahres zu befragen, was sie nachträglich von den Ereignis-sen halten, was ihnen zum Jahr 1968 einfällt, wie sie ihre Aktivitäten heute beurteilen und was aus ihnen persönlich geworden ist.
„Alt-Achtundsechziger“ ist bei Beteiligten und Kritikern gleichermaßen zu einem festen Begriff geworden, manchmal auch zu einem Schimpfwort.
Ich war sehr neugierig, wie die Beteiligten das heute sehen.
Mir ging es nicht um ein „Veteranentreffen“, bei dem die Teilnehmer wehmütig auf ihre Jugenderfahrungen zurückblicken, sondern um eine kritische und selbstkri-tische Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrun-gen und denen der eigenen Generation.
Die Auswahl der Teilnehmenden folgt einzig dem Gedanken der Vielfalt der Erfahrungen: Es beteiligen sich Menschen, die damals Lehrlinge oder junge Arbeiter waren, andere, die mitten im Studium standen, die ak-tiv an der Studentenbewegung teilnahmen oder sich eher als Beobachter der Zeit betrachten.
Es haben Menschen geantwortet, die heute noch poli-tisch aktiv sind, die bei Gewerkschaften oder anderen gesellschaftlichen Institutionen arbeiten, die als Künstler, Schriftsteller oder Journalisten dabei waren und sind, die sich auch im Rentenalter weiter für gesellschaftliche Belange einsetzen.
Allen ist gemeinsam, dass sie die Zeit um das Jahr 1968 für bedeutsam und unwiederbringlich halten und des-halb gern meiner Aufforderung gefolgt sind, meine Fragen* zu beantworten.
Seit 1968 ist in der Welt viel passiert. Unser Land hat sich stark verändert. Die DDR ist untergegangen und die Wunden, die dieser Bruch mit sich gebracht hat, sind sicher noch nicht verheilt. Ich habe mich gefragt, ob in diesem wiedervereinigten Deutschland nicht auch geschaut werden muss, wie es 1968 in der DDR zuging, ob auch dort Menschen Utopien entfalteten, die einen Platz in der Bilanz eines Aufbruchs haben müssten. Die Antwort war schnell gefunden: Ja, auch in der DDR gab es Hoffnungen, beflügelt vom „Prager Frühling“, die denen im Westen nicht unähnlich waren: Ein Sozialis-mus mit menschlichem Antlitz, wie es damals hieß. Ich würde dieses Buch aber überfrachten, wenn ich an ehemalige DDR-Bürger die gleichen Fragen stellen wür-de wie ich sie an die „Westbürger“ gestellt habe. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie sich mit der Niederschlagung des Prager Frühlings eine Utopie zer-schlug, die dann – oft von den gleichen Menschen – 1989 wieder aufgenommen und in zivilen Widerstand überführt wurde.
Der Verleger Christoph Links, geboren 1954, den ich dazu befragte, sagte mir:
„Für mich war der 21. August 1968 einschneidend, denn meine 8. Klasse machte eine Abschlussfahrt in die ČSSR. Dort verliebte ich mich in ein tschechisches Mäd-chen und kam euphorisch zurück, wenige Tage vor dem Einmarsch. Nur noch ein Brief gelangte zwischen mir und der Freundin hin und her. Dann war Schweigen.
Damals dachte man noch wegen der entsprechenden Propaganda, dass auch die NVA mit einmarschiert wä-re. Aber das war nicht der Fall. Moskau hatte Nein ge-sagt, um nicht die Assoziationen an 1938 mit deutschen Truppen zu haben.
Der August 68 war ein politisches Wachwerden für mich, der Einmarsch ein Schock und ich informierte mich intensiv über die Lage, las alle verfügbaren Zei-tungen. Die Ernüchterung über diese Tatsachen hat wesentlich zu meiner kritischen Grundhaltung beige-tragen. Es war ein „Grundknacks“, der unheilbar war.
In Berlin war es auch möglich, viele Kontakte zu West-studenten zu haben, besonders zu den Weltfestspielen 1973. Seitdem gab es regelmäßige Kontakte, die teil-weise bis heute Bestand haben.“

Utopien sind heute rar gesät. Kaum ein Denker oder eine Denkerin spricht heute über Utopia, dem Nir-gendwo-Ort, den es zu erfinden, zu erstreben und zu gestalten gilt. Wenn Autorinnen und Autoren über Zu-kunft schreiben, sind es meist Dystopien.
Vielleicht ist dies das Anziehende und Herausfordernde an 1968: dass Utopien von einer anderen, einer besse-ren Welt formuliert wurden und Veränderung machbar schien.
Ob dies Buch heutige junge Leute erreicht? Die nächste und übernächste Generation sich für 1968 interessiert? Ich weiß es nicht, aber ob sie wollen oder nicht: An ihnen ist es, ein neues Utopia (oder viele) zu entwi-ckeln.
Der junge Historiker und Bestsellerautor aus den Nie-derlanden, Rutger Bregmann, schreibt:
„Das wahre Problem unserer Zeit, das Problem meiner Generation, ist nicht, dass es uns nicht gutginge oder dass es uns in Zukunft schlechtergehen könnte.
Nein, das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besse-res vorstellen können.“

Ich kann nicht glauben, dass die Generation unserer Kinder und Enkel genau das nicht verändern wird.

Marianne Brentzel im März 2018