14.05.2018 - aktuelle Autorin - Ingrid Kansy



Die Autorin ist Rektorin im Ruhestand einer Grundschule in einem durch ein erhebliches Maß an Migration gekennzeichneten Stadtviertel in Bonn. In ihrer Schule spiegelten sich die oben beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen. So war Ingrid Kansy beispielsweise mit Schülern einer dritten Generation von Migranten konfrontiert, die mit deutlich schlechteren Deutschkenntnissen eingeschult wurden als die Generation ihrer Eltern (die Ingrid Kansy auch schon in ihrer Schule unterrichtet hatte). Diese Kinder trafen auf der Schulbank zusammen mit Akademikerkindern, die zum Zeitpunkt der Einschulung manchmal bereits lesen und schreiben konnten. Unterricht in einem solchen Umfeld ist eine Herausforderung und erfordert neuartige pädagogische Konzepte.
Das Buch macht deutlich, wie Ingrid Kansy im Laufe ihrer 40-jährigen Tätigkeit als Lehrerin und 23-jährigen Tätigkeit als Rektorin Konzepte für den didaktisch angemessenen Umgang mit dem Phänomen der gesellschaftlichen Differenzierung entwickelt hat. Dabei hat sie auf den pädagogischen Gedanken Maria Montessoris aufgebaut und sich von grundschuldidaktischen Konzeptionen meines Siegener Kollegen Prof. Hans Brügelmann inspirieren lassen. Daraus ist eine Schulpraxis entstanden, die auf altersgemischten Klassen und projektbasiertem Lernen aufbaut. Auch das zunächst neue Medium ‚Computer‘ fand schnell Einzug in jeden Klassenraum und gewann als Ressource zur Projektarbeit seine Bedeutung.
Es ist nicht einfach, die Erfahrungen eines 40-jährigen Berufslebens für andere nutz- und zugreifbar zu machen. Ingrid Kansy hat in diesem Buch den Weg der Sammlung von anekdotischen Erzählungen gewählt. Dies scheint mir eine angemessene Art zu sein, Einblicke in das ja notwendigerweise immer sehr kontextspezifische Alltagshandeln einer außergewöhnlichen Pädagogin zu vermitteln. Man darf dem deutschen Schulwesen viele Leser der hier dokumentierten Einsichten wünschen.

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

Kansy, Ingrid: Mit dir trau ich mich

Daraus:


Übers Lesen

Das Wunder des selbstbestimmten Lernens

In meiner altersgemischten Klasse war es am schönsten und befruchtendsten, wenn ich eine 4/1 (viertes und erstes Schuljahr) hatte. Das funktionierte sehr gut, wenn die Kinder täglich zwei Stunden Montessori-Freiarbeit hatten, in denen jedes Kind individuell an vom Lehrer vorbereiteten Materialien auf seinem Niveau arbeitete. In der dritten und vierten Stunde hatten das vierte und das erste Schuljahr gemeinsam zwei Stunden Projektunterricht, das heißt, wir sprachen
über dasselbe Thema, doch die Arbeitsaufträge dazu waren dem jeweiligen Schuljahr angepasst. Die Kinder lernten von Anfang an, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Die Erstklässler wählten sich einen Paten, der sie stützte und ihnen half. Nach vier Stunden hatten die Erstklässler schulfrei. In der fünften und sechsten Stunde wurden dann die Viertklässler in einer kleinen Gruppe besonders gefördert.
Natürlich bewunderten die Kleinen die Großen. Was die schon alles konnten! Dem strebten sie nach. Das wollten sie auch lernen. Der schwächste Große war in seinem eigenen Jahrgang der Letzte, aber für die Erstklässler war er dennoch bewundernswert. Das gab ihm Auftrieb. Ein kleines Wunder geschah: Jetzt strengte sich der schwächere Größere mehr an als vorher.
Doch es geschah auch häufig, dass die Großen die Kleinen bewunderten. Dann fühlte ich mich wie auf einer Wolke. Das geschah meist, wenn wir feststellten, dass ein Erstklässler das Lesen erlernt hatte. Da ich nach den Grundsätzen der Pädagogik von Maria Montessori arbeitete, lernten die Kinder individuell während der Freiarbeit zu unterschiedlichen Zeiten das Lesen. Wenn ich mit einem Erstklässler an den Lesedosen arbeitete und er seine ersten Wörter erlas, hielten die Großen vor Spannung den Atem an und strahlten wie helle Sonnen, wenn es gelang. Wir freuten uns gemeinsam über das Wunder des ersten Lesens.
Doch manchmal kam es auch vor, dass Kinder Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens hatten. Dann wurden sie getröstet. Ich erinnere mich an den kleinen, blondschopfigen Eric. Er freute sich mit uns, wenn einer seines Jahrgangs das Lesen erlernte, doch er selber arbeitete in der Freiarbeit lieber mit dem Mathematikmaterial. Rechnen konnte er prima, doch Lesen interessierte ihn nicht. Als seine Mutter merkte, dass er beim Lesenlernen der Letzte in seinem Jahrgang war, quälte sie ihn zu Hause mit täglichen Übungen. Ich wollte ihm Zeit lassen, weil ich wusste, dass es sensible Phasen gibt, in denen man mühelos lernen kann. Seine sensible Phase war zurzeit die Mathematik, wo er sogar über Jahrgangsniveau arbeitete. Er lernte dann das Lesen, aber freudlos und stockend. Freiwillig griff er nie zu einem Buch und las etwas vor – und ich quälte ihn auch nicht damit. Eines Tages wurde unsere Klasse in den Kindergarten eingeladen und die Erstklässler sollten etwas aus der Schule vorzeigen. Da das Projektthema der 4/1 ‚Schmetterlinge‘ war, hatte jeder große Pate seinem kleinen Patenkind Die kleine Raupe Nimmersatt vorgelesen. So entstand bei den Kindern die Idee, im Kindergarten dieses Buch vorzulesen und dann pantomimisch darzustellen. Ich fragte Eric, ob er vielleicht die Raupe spielen wollte. Er schüttelte den Kopf und sagte wörtlich und bestimmt: „Ich will die ganze Geschichte vorlesen.“ ‚Das kann er doch gar nicht! Er wird sich blamieren!‘, durchfuhr es mich sofort. Mir wurde ganz heiß. 28 Augenpaare sahen mich erwartungsvoll an. Ich zögerte etwas, schließlich schlug ich vor: „Du kannst ja mal mit deinem Paten üben. Wenn du es fließend vorlesen kannst, kriegst du die Rolle. Aber es muss fließend mit guter Betonung sein.“ Was ich nicht wusste, war, dass dieser Kindergarten zufällig Erics früherer Kindergarten war, denn unsere Kinder kamen aus fünf unterschiedlichen Kindergärten. So war er hoch motiviert. Dann geschah das Wunder: Ich beobachtete, wie Eric sich in der Freiarbeit freiwillig mit Lesen beschäftigte. Bei der Generalprobe las er Die kleine Raupe Nimmersatt ohne zu stocken und sinnbetont vor. Er bekam natürlich die Rolle. Die ganze Klasse war stolz auf ihn. Eric hüpfte vor Freude.
Von nun an entdeckte er für sich die Welt der Schrift und wurde ein begeisterter Leser und Vorleser, als wollte er uns sagen: „Ätsch, ich bestimme selbst, wann und wie ich lesen will!“