14.06.2021 - aktuelle Autorin - Natalja Fischer


 

Natalja Fischer, Hamburg
Wer schweigt, stimmt zu

Seit Jahrzehnten zieht IrmelaMensah-Schramm täglich los, um Hassparolen und Nazi-Sticker von den Straßen und Hauswänden Berlins zu entfernen. Die 74-Jährige hat momentan viel zu tun. Ein Tag im Leben einer eindrucksvollen Frau im Kampf gegen den Hass.

Am Treppenaufgang der U-Bahn-Station Rudow im Süden Berlins beginnt Irmela Mensah-Schramm ihre heutige Tour. Jeans, Regenjacke und über der Schulter ein Jutebeutel mit der Aufschrift „Gegen Nazis!“, das ist die Arbeitsbekleidung der 74-jährigen Aktivistin. Es ist ein grauer Nachmittag, dicke Tropfen und kalter Wind fegen einem ins Gesicht, doch das stört sie nicht. „Ich lasse mich nicht abhalten, ich war auch schon bei Schnee und mit Krücken unterwegs“, sagt sie und spannt den Schirm auf.
Ausgerüstet mit einem Ceranfeldschaber, Nagellackentferner und einer Spraydose zieht die gebürtige Berlinerin seit 30 Jahren fast täglich durch die Straßen und entfernt antise-mitische und rassistische Aufkleber, Plakate und Graffitis. Berlin-Rudow ist eine ihrer regelmäßigen Routen. Der Weg führt durch triste Seitenstraßen, in einem Garten weht eine Deutschlandfahne und auf Straßenschildern und Zaunpfäh-len kleben die Sticker. „Asylbetrüger? Nein, danke! Wir sind nicht das Sozialamt der Welt“ steht auf einem roten Aufkleber. Auf einem anderen ist eine herannahende Welle zu se-hen, darunter steht: „Asylflut stoppen.“ Im Vergleich zu ande-ren Botschaften, die Schramm auf ihren Touren entdeckt, sind diese fast harmlos. Neben Hakenkreuzen findet sie Auf-rufe wie „Hängt die Neger“, „Jude, ab in den Ofen“ oder „Aus-länder in die Gaskammer“. Urheber der Botschaften sind Neonazis, rechtsextreme Organisationen wie Widerstand Deutschland, aber auch zunehmend AfD-Sympathisanten.
Die offene Radikalisierung und der Zuwachs im rechten Lager machen ihr Sorgen. „Ich fühle die Stimmung im Land“, sagt Schramm. Hasstiraden, die sie in letzter Zeit entfernte, richten sich vor allem gegen Flüchtlinge und gegen den Islam. „Ich werde viel zu tun haben“, prophezeit sie und hält den Schaber wie zur Bereitschaft in die Luft.
Rechtlich wäre der Eigentümer oder die Stadt verpflichtet, volksverhetzende Parolen und verfassungswidrige Symbole zu entfernen. In der Praxis passiert oft nichts. Mehrfach hat Schramm die Polizei verständigt, die eine Beseitigung hätte veranlassen müssen, Anzeige erstattet, Briefe an die zustän-digen Landeskriminalämter geschrieben – meist ohne Ergebnis. Deshalb handelt sie selbst. Hakenkreuze und Parolen an Wänden übersprüht sie mit Graffiti. Dass sie deswegen mehrfach selbst wegen Sachbeschädigung angezeigt wurde, ist nicht frei von Ironie.
Ein paar Stationen fährt sie mit dem Bus. Mit Adlerblick starrt sie aus dem Fenster und sucht Schilder und Zäune nach Hassbotschaften ab. „Scheiße, da war einer!“, ruft sie. An der nächsten Haltestelle steigt sie aus und geht in strömendem Regen zurück zu dem Telefonkasten mit dem NPD-Aufkleber.
Ihr Einsatz ist eindrucksvoll. Doch wie viel lässt sich mit dem Entfernen tatsächlich bewirken? „Mit Nichtstun kann man nichts erreichen“, begegnet Schramm dem Einwand. Mit ihrer Aktion will sie ein Zeichen setzen und der Gleichgültigkeit etwas entgegenhalten, denn „wer schweigt, stimmt zu“. Sie will die Menschen aufmerksam machen, im besten Fall anstecken. Zu diesem Zweck fing sie Mitte der 90er an, die Parolen zu fotografieren, bevor sie sie entfernt. Mit den Bildern hat sie eine Ausstellung eröffnet, die seitdem durch fast alle Bundesländer getourt ist. „Ich will den Leuten zeigen, was da geklebt wird. Sie sollen nachdenken, wenn sie die Bilder sehen“, fordert Schramm.
Die heutige Tour endet am U-Bahnhof Zwickauer Damm. Am Eingang entfernt Schramm den letzten Sticker für diesen Tag. Es ist exakt der 71.221. Aufkleber in ihrem andauernden Kampf für eine Welt ohne Hass. Sie hat sie gezählt. Ob sich der Kampf gewinnen lässt, ist nicht vorherzusehen. Aber ei-nes ist sicher: Wir brauchen mehr Menschen wie Irmela Mensah-Schramm. Gerade jetzt.

aus: Rette sich, wer Kann. der kleine Alltag des Widerstands. Geest-Verlag 2021


Natalja Fischer ist 1990 in Hamburg geboren und dort aufge-wach¬sen. Nach dem Studium der Kultur- und Medienwissen-schaften in Lüneburg und London Rückkehr in ihre Heimat-stadt und Volontariat beim Stadtportal Hamburg.de mit Stationen an der Akademie für Publizistik und im Kulturressort des SPIEGEL. Aktuell arbeitet sie als Redakteurin beim Stadtmagazin SZENE und schreibt als freie Journalistin für verschiedene Medien.