15. März 2018 - aktuelle Autorin - Marianne Semnet

 

Zeit ihres Lebens war sie eine engagierte Person im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und der Verfolgung Andersdenkender. Sie kämpfte gegen das Vergessen der Verbrechen die die Nazis begangen haben ebenso wie gegen deren Neuaufstellung in der heutigen Zeit. Unter anderem hat sie an der Restaurierung der Gedenkstätte “GESTAPO-Keller” im Osnabrücker Schloss treibend mitgewirkt, die heute vielen Osnabrücker Schüler/innen dabei hilft die Geschichte hautnah zu erleben. Sie war engagiert in der Friedensbewegung und bekam 2007 für ihren verbissenen Kampf gegen das Unrecht die Osnabrücker Bürgermedallie verliehen. 2009 erschien ihr Autobiografischer Roman “Meilensteine – Ein Leben im Widerstand” im Geest-Verlag. 2010 verstarb sie plötzlich und unerwartet.

 

Kindheit im Widerstand
Auszug aus Meilensteine - Ein Leben im Widerstand. Geest-Verlag 2009

Der Volksempfänger

Seit der Flucht aus der Wohnung am Katthagen wohnten wir, wie bereits eingangs beschrieben, in der Warberg-straße. Diese Wohnung befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Großeltern. Zu ihrem Haus führte ein kleiner Schleichweg, der sich zunächst an schön gestalteten Kleingärten vorbeischlängelte, um daraufhin einen mit Gras bewachsenen kleinen Lehmhügel zu erklimmen, hinter dem in einer Senke das Haus der Großeltern lag.
Die Wohnung befand sich im Erdgeschoß und war etwas größer als das Domizil im Katthagen. In der gemütlichen Wohnküche fiel gleich der Volksempfänger ins Auge, der für meine Mutter aufgrund der Berichterstattung aus der Außenwelt ungeheuer wichtig war. Jedoch habe ich den Volksempfänger einige Male regelrecht gehasst. So geschehen am 1. September 1939 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Der Überfall auf Polen kam überraschend, weil Hitler im Jahre 1934 mit Polen einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt geschlossen hatte. Meine Mutter saß wie versteinert vor diesem schrei¬enden und polternden Gebrüll, welches aus allen Ritzen und Fugen dieses braun getönten Gerätes strömte.
Kreidebleich und völlig in sich gekehrt, war sie keines Wortes fähig. Viel später, als sie wieder zu sich gekom-men war, sagte sie: „Jetzt liegt das Verbrecherische der Hitler-Diktatur vor aller Augen!“ Verstanden habe ich das damals noch nicht. Aber allein das Entsetzen, die Un-ruhe, die Verstörtheit, das Unverständnis meiner Mutter sind immer lebendig geblieben, weil in diesem Moment ein Schleier aus eisiger Kälte sich unserer Wohnung bemächtigte.
Abend für Abend gab es in unserer Wohnung dasselbe Ritual. Die Mutter setzte sich vor das Radio, eine Decke über den Kopf gestülpt, und hörte BBC und Radio Moskau. Sie war dadurch stets über vieles informiert, und hin und wieder bekamen auch wir Kinder ein paar Brocken mit, zum Beispiel: „Hier spricht Radio London in deut-scher Sprache“ oder „Hier spricht Radio Moskau“. Aber das Mithören unsererseits war sehr selten, da wir stets Wache halten mussten. Ein Bruder stand vor der Tür. Der andere Bruder und die Schwester mussten von draußen das Haus bewachen, und ich als Kleinste wur¬de meistens draußen auf die Fensterbank gequetscht. Wenn jemand kam, sollten wir ein Klopf¬zeichen geben.
Besondere Wachsamkeit musste dabei unserem da-maligen Blockwart Waterhölter gelten. Er war der NS-Diktatur absolut hörig und sehr ruhmessüchtig. Er zog jeden Abend seine Kreise, beobachtete und lauschte. Hin und wieder, wenn nicht verdunkelt war und das Licht brannte, schrie er lautstark „Licht aus!“ oder „Verdunkelung runter!“.