15.03.2019 - aktuelle Autorin - Heike Avsar


 

Heike Avsar, Berliner Autorin, die in ihrem Roman 'Sterne über Anatolien' über das Leben zwischen zwei Kulturen schreibt, über ein Leben (und auch das Sterben ihres Mannes) in der Welt zwischen Berlin und der Türkei.

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 in Kürze erscheint ihr zweiter Roman: Der tiefe Fall des Herrn P.

Daraus den Ausschnitt:

Das Land ist weit und karg. Zur rechten Seite kahle Hügel und Berge, die im Sonnenlicht mal braun, mal schwarz schimmern, die Wipfel selbst im Sommer mit Schnee bedeckt. Ein Flüsschen schlängelt sich durch die Landschaft, an seinem Ufer ein Birkenhain, der sich bis an die Felder zieht.
Ich bin allein auf dem Vorsprung eines Berges, ein flacher, kantiger Stein dient mir als Sitz. Um mich herum vertrocknetes Gras, abgeknickte Disteln noch vom heißen Sommer des Vorjahres. Für einen Moment schleße ich die Augen, der laue Aprilwind spielt in meinem Haar, sodass mir die Strähnen ins Gesicht geweht werden. Der Platz ist mir vertraut und doch so fremd.
Ich öffne die Augen und schaue auf das Dorf, das etwa 150 Meter unter mir liegt: Bostanlik Köyü – ‚Feld-Dorf‘, ein winziger Flecken in Mittelanatolien mit gerade mal sechzig Einwohnern. Die Häuser sind primitiv gebaut, die Fassaden hell getüncht oder naturbelassen, vor den Fenstern blau gestrichene Gitter. Denselben Farbton haben die eisenbeschlagenen Eingangstüren, die mit einem lauten Krachen ins Schloss fallen, sodass das Geräusch bis zu mir heraufdringt.
Direkt unter mir liegen die Häuser meiner Schwiegereltern und meiner beiden Schwager. Doch sie werden nur noch im Sommer bewohnt, seit meine Schwiegereltern tot sind und die gesamte Familie vor einigen Jahren in die Stadt gezogen ist. Überhaupt hat sich alles verändert, seit ich meine große Liebe verloren habe. Und doch scheint die Leere fast schon in Vertrautheit überzugehen.
In weiter Ferne sehe ich die Menschen auf den Feldern, die jetzt im April die Saat ausbringen. Jeder Dorfbewohner kennt mich, und auch ich kenne alle ihre Geschichten, ihre in fast 24 Jahren durch Geburten oder Todesfälle mal größer, mal kleiner gewordenen Familien sowie ihre Sorgen und Freuden.
Im Juli 1980 kam ich das erste Mal hierher. Seitdem nennen mich die meisten Dorfbewohner liebevoll Alman Kizi  – obwohl ich längst eine erwachsene Frau bin – oder Ilka, obwohl ich eigentlich Ilke heiße. Mein Mann Ismail hatte mich damals so vorgestellt, weil er mich selbst so nannte. Im Türkischen klingt Ilka besser als Ilke und lässt sich leichter aussprechen. In all den Jahren habe ich mich so sehr an den Namen gewöhnt, als hätte ich schon immer so geheißen.
Ich beobachte Maksude, eine geistig behinderte junge Frau von etwa 32 Jahren. Sie ist bunt gekleidet, hat kurzes, strubbeliges, ungekämmtes Haar und treibt zwei Kühe zur Tränke, so wie sie es schon als achtjähriges Mädchen tat, damals, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie stößt noch immer dieselben kreischenden Laute aus, wenn sie den Kühen mit einer Gerte aufs Hinterteil schlägt, um sie in eine bestimmte Richtung zu treiben. Maksudes Eltern sind Cousin und Cousine, Maksude ist als Einziges der sechs Kinder behindert. ‚Inzucht‘ würden wir Westeuropäer das nennen, doch hier sind Ehen zwischen Verwandten etwas Normales. Es ist wie beim Roulette: man gewinnt oder verliert.
Rechts von mir, auf der anderen Seite des Hügels, liegt die Moschee des Dorfes. Heute ist Freitag. Es ist kurz vor zwölf. Gleich wird die Stimme des Hocas aus dem Lautsprecher des Minaretts zum Freitagsgebet rufen. Ich unterbreche meinen Gedankenfluss, es ertönt das Allahu akbar .