15.05.2019 - aktuelle Autorin - Ida Bender

 

 

Ida Bender geb. Hollmann, geboren am 18.06.1922 in Rothammel an der
Wolga. Journalistin und Buchautorin, lebt seit 1991 in Hamburg, verstorben.

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 
Schon am frühen Morgen strahlte die Augustsonne vom wolkenlosen Himmel über der Steppe, einer Ebene in Grün und Grau. In weiter Ferne zog sich eine niedrige Gebirgskette, die eigentlich eine Reihe Hügel war. Einer höher, ein anderer niedriger, teils bewaldet reihten sie sich dicht aneinander, bildeten gleichsam einen Rahmen der gro-ßen Ebene.
Ein Trupp Menschen mit 23 zweigespannigen Pferdewagen zog steppein in südwestlicher Richtung von dem großen Strom. Der Pri-vatunternehmer de Boffe brachte die von ihm in Deutschland ange-worbenen Deutschen als Siedler in die Region der unteren Wolga. Er und der Landmesser ritten der Wagenkolonne voran. Den Reitern folgten die Neusiedler.
Als Erster kam der Wagen des Adam Rothammel (40) mit seiner Familie. Ihm folgte der Wagen von Johann Heinrich Kress (40) mit seiner Frau Anna Katharina Appelhans (45) und seinen drei Kindern. Auch der Stiefsohn Nikolaus Appelhans und dessen zwei Geschwis-ter, Johann Peter und Elisabeth Appelhans, gehörten nun zu der Familie des Johann Heinrich Kress, seit ihre Mutter sich vor Antritt der großen Reise mit Johann Kress verehelicht hatte.
Danach fuhr der Wagen von Heinrich Frank (24) mit Frau und Kind, die elternlosen Kinder Valentin Degenhardt (18) und seine zwei min-derjährigen Geschwister, die zu Heinrich Franks Familie zählten. Christian Fuhr (24) samt Frau Katharina, Sebastian Lechmann (45) mit Frau und Kind, Philipp Distel (30) mit Frau, Tochter und Stieftochter, die ledigen Brüder Heinrich (20) und Philipp (17) Haag und weitere 17 Familien.
Sicheren Schritts ging Nikolaus Appelhans, gerade erst 21 gewor-den, neben dem Wagen her, atmete in tiefen Zügen die würzige Steppenluft ein. Vertraute Düfte von Thymian, Salbei und Wermut erinnerten ihn an das Dorf Bechtheim südöstlich von Mainz, wo er geboren und aufgewachsen, wo sein Vater im Siebenjährigen Krieg ums Leben gekommen war. Wo er, Nikolaus, noch nicht erwachsen, zusammen mit seiner Mutter das vom Fürsten gepachtete Land be-arbeitete, doch die Ernten so gering waren, dass sie dem Fürsten den Pachtlohn schon einige Jahre lang nicht mehr bezahlen konnten. So ging es vielen ihrer Nachbarn. Wie eine Rettung in der Not waren die Werbeagenten Katharinas der Zweiten, der Zarin Russlands, mit vielen verlockenden Versprechungen gekommen: 30 Desjatin  Land je Familie! Kein Militärdienst! Und eigene Verwaltung der Siedlungen, Pflege des christlichen Glaubens, der eigenen Muttersprache und Kultur, der Sitten und Bräuche. Das ließ bei den bedachtsamen deutschen Bauern keine Zweifel aufkommen und viele beschlossen, nach Russland auszuwandern.
Die Sonne lachte vom blauen Himmel, der hier unendlich hoch und wolkenlos war. Ein leichter Luftzug bewegte die hohen Gräser der unberührten Steppe. So weit das Auge reichte, unbewohntes Land, das keinen Pflug kannte. Freude erfüllte Nikolaus' Gemüt, alle seine Gefühle. Hier Felder bestellen, Gärten pflanzen! Schon sah er vor seinem geistigen Auge wogende Weizenfelder, endlose sich bis zum Horizont ausdehnende Sonnenblumenfelder, die ihm mit ihren gol-denen Köpfen zunickten. Wie schön! Er war stark, jung und voller Tatendrang. Seine Augen schweiften in die Ferne: Hier wird er sein Haus bauen, Felder bestellen und die Früchte seiner Arbeit, seiner Mühen ernten zum Wohl seiner Familie. Ein besseres Leben für sich und seine Nachkommen schaffen. Schön war das Gefühl, jung, kräf-tig, voller Energie voller Eifer und Hoffnung zu sein. Schön ist die Jugend...
Das Gelände hatte sich etwas verändert, die Menschen waren der Hügelkette näher gekommen. Ab und zu lag ein kleiner See zwischen zwei Hügeln oder ein Flüsschen verlor sich in einer Senke.
An diesem 21. August 1767 waren alle gespannt, endlich den Ort zu erreichen, an dem ihnen das Land als Gemeindegut auf ewige Zeiten zugeteilt werden sollte. Das Land, das sie nun pflügen wür-den, wo sie ihr Haus, ihre Heimat bauen würden.
Auf der Höhe eines Hügels angekommen, zeigte de Boffe der ihm folgenden Gruppe Neusiedler den in den Boden gerammten Pfahl: „Hier am Hang baut euch eure Siedlung.“ 
Am Fuße des Hügels schlängelte sich ein Bach. Ein Mann könnte mit Anlauf darüberspringen! Tief konnte er nicht sein, an manchen Stellen wohl nicht einmal knietief. Den Bach entlang wuchsen Sträu-cher, einzelne Weiden, Lärchen, Ahornbäume. Auf der gegenüber-liegenden Seite des Bachs ging es wieder bergan zur nächsten Hü-gelkuppe.
„Und das Bächlein soll ein ganzes Dorf mit Wasser versorgen? O-Gott-o-Gott!", sagte einer der Ankömmlinge. Enttäuschung klang in diesen Worten.
Adam Rothammel, der bedachtsame Vierziger, den seine Reisege-fährten bei ihrer Ankunft in der Wolgastadt Saratow zum Vorsteher ihrer Gemeinde gewählt hatten, sah seine Reisegefährten jetzt nacheinander an. Nach der strapaziösen fast ein Jahr dauernden Reise von Lübeck bis zur Wolgastadt Saratow waren sie alle müde. Nun am Reiseziel angekommen, dürfen sie nicht völlig enttäuscht werden. Zwar gab es die ihnen versprochenen Wohnhäuser nicht, aber es gab ja auch kein Zurück. Folglich musste er seiner Gemein-de Mut zusprechen. Er machte einen Schritt vor die Gruppe, um den Leuten ins Gesicht sehen zu können, fast zertrat er mit dem Fuß ein unscheinbares Kraut. Welch herber Duft!. „Oh, Thymian, du liebes Kraut – du bist mir hier ein so vertrauter Gruß aus der nun fernen Heimat!“ Sprach’s wie zu sich selber, nahm das Kraut in die Hand und sagte zu seiner Gemeinde gewandt: „Zwar gibt es hier keine Blumenau, die Steppe ist nicht üppig grün, mehr grau von Wermut-stauden, doch seht mal welche Weiten!“ Er zeigte mit seiner Rechten, in der er immer noch die Thymianstaude hielt. „Awer, kuckt mol, Leit, wie viel Land uf unser Händ warte tut!“
In der Stadt Saratow hatte jede Familie von der Tutelkanzlei, der für die Zuwanderer zuständigen russischen Behörde, zwei Pferde, eine Kuh und 25 Rubel bekommen. Für das Geld konnten sie die Wagen und einige Geräte kaufen. Jetzt aber standen sie vor dem schwierigen Problem, Unterkunft für Menschen und Tiere zu schaf-fen.
Den Bach entlang bauten sie Erdhütten, fertigten Lehmziegel und mähten Gras, um Heu für den Winter zu haben. Sie nannten ihr Dorf Rothammel nach dem Namen ihres ersten Gemeindevorstehers. Später, 1768, kam die Tutelkanzlei der Zarenregierung mit der russi-schen Benennung der deutschen Siedlung „Pamjatnaja“, was auf Deutsch „Denkwürdige“ bedeutet.