16. April 2018 - aktueller Autor - Frerich Ihben


Ihben, Frerich


Frerich Ihben
Jahrgang 1953, hat 2016 seinen ersten historischen Roman veröffentlicht. Außerdem sind mehre Beiträge in Anthologien erschienen. Der Autor ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Töchtern.
 

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http://www.frerichihben.jimdo.com/ (link is external)

 

Aus: Frerich Ihben - Weit weg ist so nah

Weert


In tiefen Atemzügen sog der junge Mann die Morgen-luft ein. Der Geschmack und der Geruch waren ihm inzwischen bekannt, aber etwas blieb immer noch fremd für ihn. Etwas Säuerlich-Mildes lag hier in der Luft, verbunden mit Gerüchen von Pflanzen, die noch nicht in das Schema seiner bisherigen Erfahrungen passten. Verwunderlich war das nicht, hatte er doch in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens die raue, salzige und schwere Küstenluft eingeatmet. Gaumen und Lunge erwarteten immer noch bei jedem Atemzug den vertrauten Geschmack dieser Mischung aus Sauer¬stoff und Jod.
Sicherlich, er war angekommen, hier am Rande des Moors, mit einem Bein noch auf dem Geestrücken, aber er fühlte sich noch nicht zu Hause. Obwohl es nur ein Tagesfußmarsch war, der ihn von seinem bisheri-gen Leben trennte, schien ihm hier doch vieles wie in einer anderen Welt. Der sumpfige Moorboden, der schon bei einem leichten Tritt federnd zurückwich, hatte so gar nichts mit dem schweren Marschboden gemein, so wie er ihn kannte. Der hatte seinen Bewohnern immer das Äußerste abverlangt. Im Sommer trocknete er aus, bis seine steinharte, zerfurchte Oberfläche nur noch mit einer Spitzhacke zu bearbeiten war. Und selbst das gelang manchmal nicht mehr. Sog der Boden sich im Frühjahr oder Herbst mit Regenwasser voll, klebte er wie Pech an Werkzeug und Stiefeln. Wer sich ihm allerdings stellte, die schweißtreibende Arbeit nicht scheute, den belohnte er reich. War das Feld erst bestellt, brachen die groben Kleiklumpen* unter der unbändigen Lebenskraft der Getreidekörner auf. Dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Wurzeln wehrhaft in den schweren Boden krallten, die im Überfluss vorhandenen Nährstoffe aufsaugten und starke Halme und schwere Ähren Richtung Himmel wachsen ließen.

Fast ein Jahr lebte Weert jetzt schon hier. Mehr als doppelt so lange war es her, dass diese tiefschwarze Sturmnacht sein bisheriges Leben aus seiner gedachten Bahn gerissen hatte. Genauer gesagt, jener Morgen, der ihn, den kräftigen, tatendurstigen Jüngling, allein und hilflos zurückgelassen hatte.

Jaulend, pfeifend und stöhnend trieb der Orkan an diesem Tag Unmengen an Regen vor sich her. Schon am Abend des Vortages waren zwei Eichen, die wohl mehr als hundert Jahre allen Unbill des Wetters standgehalten hatten, ächzend auf den Boden gesunken. Vorher hatte es so ausgesehen, als würden sie sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen können, als würden sie, die schweren Kronen dabei schüttelnd, um ihr Leben kämpfen. Während der erste Koloss, der letztendlich doch den Kampf gegen den ungleichen Feind verlieren musste, der Länge nach auf den vor-beiführenden Weg schmetterte, stürzte die zweite Eiche, sich nach und nach dem Sturm ergebend, auf den Stall. Das Bersten der Balken und Türen übertönte zusammen mit dem angsterfüllten Brüllen der aufge¬stallten Tiere im Todeskampf zeitweilig die apokalypti¬schen Geräusche des Unwetters. Es schien so, als würde der ‚Blanke Hans‘ nun erst richtig Gefallen an seinem teuflischen Spiel finden. Tiere, Haus und Bäume waren nur der Anfang. In seiner Gier griff er auch nach den Menschen. Wen er nicht mit seinen Wassermassen erreichte, den lockte er mit perfider List in die Falle.
Weert und sein Vater Asmus kämpften sich gegen Sturm und Regen zum Stall durch. Sie mussten ihre Tiere, die Milchkühe und das Jungvieh, versuchen zu retten. Jedenfalls die, die sie noch lebend aus den Trümmern würden befreien können. Zusammen hie-ben sie mit schweren Eisenhämmern ein großes Loch in die Stallwand, damit die Tiere flüchten konnten. Es war die einzige Möglichkeit, denn die zerschmetterte Stalltür hatte sich derart mit herabgestürzten Balken verkeilt, dass es an dieser Stelle kein Durchkommen für die Tiere mehr gab. Jeden Augenblick konnte das Gebäude völlig in sich zusammenbrechen. Die beiden Männer mussten sich, über Trümmer und Kadaver stol¬pernd, von Tier zu Tier durchkämpfen. Sie schnitten die Hanfseile durch und trieben Kühe und Kälber in die Richtung der geschaffenen Öffnung. Ein fast unmögliches Unterfangen, denn es war, nur durchbrochen von den unheimlich zuckenden, gleißenden Blitzen, stockfinster, und die verängstigten Tiere ließen sich in ihrer Panik kaum bändigen.