16. Juli 2017 - aktueller Autor - Dieter Wöhrle

Dieter Wöhrle,
1955 in Stuttgart geboren, Schulzeit in Aalen (Ostalbkreis), Studium
der Germanistik und Anglistik an der FU Berlin, 1978/79 Aufenthalt in
Aberdeeen, Scotland, seit Ende 1983 im Schuldienst tätig, seit 1986 an
der John-F.-Kennedy-Schule in Berlin. Wohn­haft in Berlin-Friedenau.

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 
Dieter Wöhrle

Verlustschmerz

Der Nachbar Kurt sieht elend aus,
als leide er an Depressionen.
„Verlustschmerz“, fand der Arzt heraus,
„Sie müssen schlafen und sich schonen.“

An sich ist Stammgast Kurt im „Treff“,
der Kneipe unten an der Ecke.
Hier sagt er, was er denkt, dem Chef.
Der hört’s und starrt nur an die Ecke.

„Wer streikt, bringt uns um unser Glück.“
Und: „Banker sind ganz arme Schweine.“
Den Kaiser wünscht sich Kurt zurück:
„Das Volk braucht eine kurze Leine.“

Kurt weiß, wie clever er doch ist:
Er sammelt Eisenbahnmodelle,
doch nur die teuren, nicht den Mist.
Er hat eine geheime Quelle.

Die Barfrau kennt und duldet ihn,
poliert die Gläser hinterm Tresen.
Sie hört schon lange nicht mehr hin,
wenn Kurt betont, er sei belesen.

Hier sitzt er oft, bei Tag und Nacht,
und wohnt im Hinterhaus bei Muttern.
Er sitzt und trinkt, doch keine Macht
bringt ihn dazu, auch hier zu futtern.

Dabei fühlt Kurt sich hier sehr wohl,
fühlt akzeptiert und respektiert sich
und schwärmt von Mutterns Blumenkohl,
auch wenn die Barfrau manchmal ziert sich.

Doch heute sieht Kurt elend aus,
als leide er an Depressionen.
„Verlustschmerz“, fand der Arzt heraus.
Der ‚Treff’ hat zu. Bleibt zu betonen:

Dem genialen Geisterguss
fehlt Publikum, zu Kurts Verdruss.