16.02.2020 - aktueller Autor - Detmar Müller

Detmar Müller lebt mit seiner Familie im Landkreis Osnabrück. Nach dem Studium der Fächer Germanistik und Geschichte an der Carl-von-Ossietzky Universität in Oldenburg betrieb er alle möglichen Jobs, von der Drogenberatung über die Erwachsenenbildung bis hin zum Aufbau einer Schulbibliothek, bevor er mit seiner Frau in die Nähe von Osnabrück zog. Hier widmete er sich als emanzipierter Mann der Kindererziehung und Haushaltsführung. Als die Kinder selbständiger wurden und schließlich auszogen, fing er an zu schreiben. Sein erster Roman „Zonnebeke“ erschien 2007. Auch der neue Roman „Die Rosenfelds“ spielt wiederum im ersten Weltkrieg

 

In dem  Roman erzählt Detmar Müller in ergreifender Weise die physische und psychische Zerstörung von Mitgliedern einer Familie im Ersten Weltkrieg. Schonungslos deckt er am Schicksal der einzelnen Familienmitglieder auf, wie sich das Leben der Menschen in diesen Jahren verändert, gleich ob im Schützengraben oder auch in der Heimat.

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 
Er fand den Schlüssel nicht. Friedrich hatte zuerst in den Taschen seines Militärmantels gesucht, der an ihm hing wie an einer Vogelscheuche. Als Friedrich Rosenfeld vor fünf Monaten in den Krieg gezogen war, hatte der Mantel wunderbar gepasst. Inzwischen wog der Besitzer des Mantels jedoch zwanzig Pfund weniger. Friedrich kramte in den Taschen seiner ausgebeulten Militärhose herum, die er andauernd hochziehen musste. Auch hier fand sich kein Hausschlüssel. Er überlegte, ob er überhaupt einen Schlüssel mitgehabt hatte. Nimmt man einen Haustürschlüssel mit, wenn man in den Krieg zieht?
Plötzlich erschien ihm seine Suchaktion als sinnlose Zeitverschwendung. Im Haus warteten seine Frau Antje und seine beiden Kinder Katharina und Jan. Genau genommen warteten sie nicht, jedenfalls nicht auf ihn. Er hatte ihnen kein Wort davon geschrieben, dass er nach seiner schweren Blutvergiftung, die ihn beinahe umgebracht hätte, einen vierzehntägigen Genesungsurlaub bekommen hatte.
Sosehr er sich in den vergangenen Monaten nach seiner Familie gesehnt hatte, jetzt empfand er Angst vor dem Wiedersehen. Friedrich hatte das Zusammentreffen bisher hinausgezögert. Anstatt sofort vom Bahnhof nach Hause zu fahren, war er zuerst zum Friedhof, um das Grab seines Großvaters zu besuchen. Sein Großvater war ihm in einem seiner Fieberträume erschienen und hatte ihn ins Leben zurückgeholt. Von da ab war es mit seiner Genesung bergauf gegangen.
Friedrichs rechte Hand näherte sich zögerlich dem Klingelknopf. Als sein Zeigefinger den Knopf berührte, zog er die Hand zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Friedrich schüttelte den Kopf. Es ging noch nicht! Schweren Herzens machte er kehrt und stieg die vier Stufen, die zu seiner Haustür führten, wieder herunter.
Er lief durch die Straßen, ohne dabei nachzudenken. Nach einer ganzen Weile bemerkte er eine Eckkneipe auf der linken Straßenseite. Die Wirtschaft wirkte verlassen, das Licht der Bierreklame war nicht angeschaltet. Es war genau dieser verlassene Eindruck, der Friedrich dazu bewog, die Klinke der Eingangstür herunterzudrücken. Zu seiner Überraschung sprang die Tür auf und gab den Blick auf einen vollkommen leeren Schankraum frei. Er betrat die Kneipe nach einigem Zögern und setzte sich an die Theke.
Während er auf das Erscheinen der Bedienung wartete, sah Friedrich sich um. Sein Blick fiel auf das Bild eines Kriegsschiffes an der Wand hinter dem Tresen. Daneben hing das Porträtfoto eines Mannes in mittleren Jahren, der eine Matrosenbluse trug. Der Mann grinste, vermutlich auf Weisung des Fotografen, dümmlich in die Kamera. Wenn man genauer hinsah, konnte man auf dem Band der Matrosenmütze den Namen ‚SMS Blücher‘ entziffern.
Friedrich wollte sich gerade wieder erheben, weil er des Wartens überdrüssig geworden war, als er Schritte aus einem angrenzenden Raum hörte. Gleich darauf erschien eine verhärmt aussehende Frau von vielleicht Anfang dreißig.
„Eijentlich haben wir jeschlossen!“, sagte die Frau mit kaum vernehmlicher Stimme.
„Die Tür war aber offen!“, erwiderte Friedrich ungehalten.
Die Frau schien mit den Tränen zu kämpfen und Friedrich tat es leid, so unwirsch reagiert zu haben.
„Ick habe wohl verjessen abzuschließen. Dauernd verjesse ick allet Mögliche! Irjendwie weeß ick übahaupt nich mehr, wo mir der Kopp steht in die letzte Tage!“ Die Frau zog ein riesiges Taschentuch aus einer der Taschen ihrer Kittelschürze und schnäuzte sich geräuschvoll.
„Soll ich wieder gehen?“, fragte Friedrich teilnahmsvoll.
Die Frau schien sich wieder gefangen zu haben. „Nee, wenn Se schon mal hier sind, denn trinken Se in Jottes Namen Ihr Bierchen! Aber ick werd mal die Tür abschließen. Bilden Se sich dewejen aber keene Schwachheiten in. Mir reicht det heute einfach, wenn ein Gast hier is!“
Nachdem sie die Eingangstür abgeschlossen hatte, zapfte sie ein Bier und stellte es vor Friedrich hin. Er nahm einen großen Schluck und war angenehm überrascht. Das Bier hatte noch Friedensqualität. Als er die Wirtin darauf ansprach, nickte sie. „Det is Friedensqualität! Det is eins von die Fässer, die Hannes letzten Sommer noch besorgt hat, bevor sie ihn einjezogen haben. Normalerweise schenke ick inzwischen ooch dieset merkwürdije Kriegsbier aus, aber nehmen Se det mal als kleene Entschädijung für die Unjelejenheiten, die ick Ihnen vaursacht habe. Außerdem scheinen Se ja direkt von der Front zu kommen!“ Sie deutete dabei auf Friedrichs Gewehr und Tornister, die er neben sich auf einem Stuhl abgestellt hatte.
„Ja, das kann man so sagen!“, erwiderte Friedrich zögerlich.
Beide schwiegen für eine Weile. Friedrich zündete sich eine Zigarette an. Er deutete schließlich auf das Bild mit dem Matrosen. „Ist das Ihr Mann?“
„Ja“, antwortete sie einige Augenblicke später, „det is Hannes!“
Wieder schwieg sie für eine Weile, dann brach es plötzlich aus ihr heraus: „Ich weeß nich mal, ob er noch lebt! Sein Schiff is vor eine Woche versenkt worden. Anjeblich sollen die Engländer zweehundert Mann aufjefischt haben. Ick weeß aber nich, ob det stimmt. Und wenn det wirklich stimmen sollte, weeß ick nich, ob Hannes bei die Jeretteten dabei war. Er is entweder ersoffen oder in englische Kriegsjefangenschaft. Det sind die zwee Möglichkeiten!“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie griff erneut nach ihrem Taschentuch, wischte sich das Gesicht ab und schnäuzte sich lautstark.
„Von die Heulerei wird et schließlich ooch nich besser!“, sagte sie schließlich energisch, bevor Friedrich noch dazu kam, ihr sein Mitgefühl auszudrücken.
„Und wat is mit Ihnen? Warum sind Se nich einfach nach Hause jegangen, nachdem Se wieder hier waren? Oder haben Se keen Zuhause?“
„Doch“, antwortete Friedrich stockend und sagte der Frau seine Adresse.
„Det is doch ne ganze Ecke von hier und außerdem ne piekfeine Jejend.“
„Ich war vorhin auch schon dort und hatte den Finger fast an der Haustürklingel. Dann habe ich mir gedacht, ich mach erst noch einen Abendspaziergang.“
„Abendspaziergang? Det is mindestens eine Stunde Fußweg von hier. Wat hat Sie denn um Himmels willen zu Hause erwartet?“
„Meine Frau und meine beiden Kinder.“
„Und warum sind Se vor denen jetürmt?“
„Ich bin nicht vor denen getürmt!“, erwiderte Friedrich ärgerlich.
„Natürlich sind Se jetürmt, sonst wären Se ja nich hier, sondern zu Haus bei Ihre Lieben!“
Die Frau nahm Friedrichs inzwischen leeres Bierglas und füllte es noch einmal.
„Wenn Se det leer haben, denn sehen Se zu, det Se zu Ihrer Familie kommen. Die machen sich garantiert Sorjen wejen Ihnen!“
„Die machen sich keine Sorgen, weil ich gar nicht geschrieben habe, dass ich komme!“
„Det vasteh ick nich!“, sagte die Wirtin kopfschüttelnd.
„Das Problem ist, dass ich seit Oktober in Belgien an der Front war und meine Frau ist Belgierin.“
Die Miene der Wirtin hellte sich im plötzlichen Verstehen auf, um gleich darauf einen Ausdruck tiefer Ent-rüstung anzunehmen. „Jetzt begreif ick endlich, warum Se solche Manschetten vor Ihre Ehefrau haben“, fuhr sie Friedrich an. „Ihr Kerle seid doch alle jleich! Sie haben sich also ne flotte Belgierin anjelacht, während Ihre Frau zu Hause jesessen und auf die Jören aufgepasst hat. Det is doch mal ne orijinelle Variante von Vaterlandsverteidijung!“
„Sie verstehen mich vollkommen falsch!“, erwiderte Friedrich bestürzt.
„Ihnen werd ick helfen von wejen Missverständnis!“, fuhr ihm die Wirtin brüsk über den Mund. „Packen Se Ihren Schrapps zusammen und denn vadünnisieren Se sich! Det Bier kostet einsfuffzich!“
Die Wirtin schloss zornentbrannt die Eingangstür auf und Friedrich kramte hektisch einige Münzen aus seiner Geldbörse. Er raffte sein Gewehr und seinen Tornister an sich und fand sich draußen auf dem Bürgersteig wieder.
„Det Se sich nich schämen!“, rief ihm die Frau noch zu, bevor sie die Tür von innen verriegelte.
Friedrich kam nach diesem Schock allmählich wieder zur Besinnung. Er konnte sich nicht erinnern, jemals derartig falsch verstanden worden zu sein. In gewisser Hinsicht hatte er sich tatsächlich eine „flotte Belgierin anjelacht“, wie es die Wirtin eben ausgedrückt hatte. Nur war das nicht kürzlich im Krieg passiert, sondern bereits vor zehn Jahren. Damals hatte er diese Belgierin geheiratet und jetzt hatte er zwei Kinder mit ihr.
Jetzt sehnte er sich danach, seine Frau und die Kinder wieder im Arm zu halten. Andererseits kam er gerade aus Belgien zurück und hatte miterlebt, wie das Heimatdorf seiner Frau und auch ihr Geburtshaus zerstört worden waren. Er war als Soldat sogar selbst an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen, die Antjes Heimat in Schutt und Asche gelegt hatten.
Missmutig zog er seine Uhr aus der Tasche. Im Licht einer Straßenlaterne sah er, dass es inzwischen halb acht geworden war. Gegen halb sechs hatte er an der eigenen Haustür gestanden. Zwei kostbare Stunden waren sinnlos verschwendet, außerdem hatte er nun auch noch eine Bierfahne.
Er überlegte, die Straßenbahn zu nehmen, besann sich jedoch eines Besseren. Eine Stunde Fußmarsch an der frischen Luft würde den Biergeruch immerhin etwas abschwächen.
Friedrich machte sich auf den Weg und fragte sich, ob die Kinder wohl noch auf sein würden. Falls nicht, würde Antje sie sicherlich wieder aus ihren Betten holen. Er verstand sich selbst nicht mehr. Anstatt diese trostlose Unterhaltung mit einer Frau zu führen, die vermutlich vor einer Woche ihren Ehemann verloren hatte, denn es war nur ungefähr ein Fünftel der Besatzung der Blücher gerettet worden, hätte er mit seiner Frau und den Kindern zusammen zu Abend essen können. Um diese Zeit hätten er und Antje wahrscheinlich schon gemütlich bei einem Glas Wein zusammengesessen.
Er überlegte, wie das früher gewesen war. Sie hatten abends zusammengesessen, wenn die Kinder im Bett gewesen waren. Er hatte aus der Schule erzählt und sie von ihrem Tagesablauf zu Hause berichtet. Oft hatte Antje ihm Briefe von ihrer Mutter vorgelesen. Im Laufe der Jahre hatte er sich so viel Niederländisch angeeignet, dass er das meiste verstand. Als sie vorletzte Weihnachten in Flandern gewesen waren, hatte er sich zum ersten Mal mit seinen Schwiegereltern beinahe fließend in deren Muttersprache unterhalten können, ohne dass Antje ständig zum Übersetzen dabei sein musste.
Ihm fiel auf, dass er in zwei aufeinander folgenden Jahren das Weihnachtsfest in Flandern verbracht hatte. Das vorletzte Mal zusammen mit Antje und den Kindern bei den Schwiegereltern, das letzte Mal im Schützengraben in Sichtweite ihres völlig zerschossenen Gehöfts. Es war schon seltsam, wie der Krieg ihn ausgerechnet nach Zonnebeke, Antjes Heimatort, geführt hatte. Die Schwiegereltern selbst konnten sich offenbar rechtzeitig vor dem Krieg in Sicherheit bringen. Friedrich war gespannt, ob Antje etwas über ihren Verbleib wusste.
Er blieb stehen. Nach seiner Schätzung war ungefähr ein Viertel der Wegstrecke geschafft. Friedrich überlegte, ob er doch noch die Straßenbahn nehmen sollte, denn fühlte sich nach wie vor sehr geschwächt. Er legte den schweren Tornister und das Gewehr ab. Schwer atmend lehnte er sich gegen eine Hauswand. Friedrich holte ein Militärtaschentuch aus seiner Hosentasche hervor, das von der Größe her an ein Kinderbettlaken erinnerte, und wischte sich den Schweiß ab.
Besorgt fragte er sich, ob er jemals wieder die körperliche Leistungsfähigkeit wie vor seiner Blutvergiftung erreichen würde. Er hatte tagelang mit dem Tod gerungen und auf dem Höhepunkt der Krise war er nur noch Haut und Knochen gewesen. Inzwischen hatte Friedrich zwar wieder etwas zugenommen, bot aber immer noch einen erschreckenden Anblick.